Anfang April berichtete der STANDARD über angeblich verheerende Arbeitsbedingungen beim Paketdienstleister DPD in Kalsdorf bei Graz. Bei Subunternehmern beschäftigte Fahrer mussten laut deren Aussagen bis zu 17 Stunden täglich arbeiten, bei Stundenlöhnen von 5,20 Euro – was DPD dementierte.

Weitere Dokumente aus Kalsdorf und aus einem Depot in Hall in Tirol geben nun einen genaueren Einblick, wie solche Arbeitsbedingungen mutmaßlich zustande kommen: indem DPD seine Subunternehmer systematisch unter Druck setze und deren finanzielle Abhängigkeit ausnutze. So erzählen es Betroffene im Gespräch und legen es Verträge, Abrechnungen und Preislisten nahe. DPD spricht von "falschen Vorwürfen", die "ausschließlich die öffentliche und wirtschaftliche Schädigung unseres Unternehmens zum Ziel" hätten. Man behalte sich etwaige medienrechtliche Schritte vor.

"Falsche Vorwürfe"

Die betroffenen Depots in Kalsdorf und Hall werden vom DPD-Gesellschafter Gebrüder Weiss Paketdienst GmbH betrieben. DPD bzw. Gebrüder Weiss selbst liefern keine Pakete aus, sondern von ihnen als "Systempartner" bezeichnete Subunternehmer. Bei diesen handelt es sich meist um kleine bis mittelgroße Transportunternehmen mit mindestens zwei und maximal 30 Angestellten. "Derlei Subunternehmen gehen auffällig häufig insolvent", beobachtet Wilfried Lehner, Bereichsleiter Finanzpolizei beim Amt für Betrugsbekämpfung, im STANDARD-Gespräch mit Blick auf die gesamte Branche.

DPD Paketzusteller
Das DPD-Lager in Hall in Tirol.
Johannes Greß

Der STANDARD hat mit vier ehemaligen und einem aktiven Frächter sowie einem ehemaligen Büromitarbeiter gesprochen, die im Zeitraum 1990 bis heute teils Jahrzehnte für DPD in Kalsdorf und Hall in Tirol tätig waren. Von Jahr zu Jahr, so erzählen diese übereinstimmend, würden die Bedingungen widriger. Die Preise pro Paket habe DPD in den vergangenen Jahren kaum erhöht, in manchen Fällen sogar gesenkt. Ein Frächter legt zwei Preislisten vor: Der Schillingpreis aus den 1990ern entspricht ziemlich genau dem Paketpreis vom Mai 2023.

"Du unterzeichnest das – oder da ist die Tür"

Regelmäßig scheinen die Depotbetreiber zu versuchen, ihre Systempartner unter Druck zu setzen. Frächter erzählen, Vorgesetzte stellten sie vor die Wahl: Der Preis pro geliefertes Paket werde gesenkt oder der Vertrag gekündigt. "Du unterzeichnest das – oder da ist die Tür", beschreibt ein Frächter das Drohszenario. Ein anderer spricht von "zwei Zetteln, die mir gleichzeitig auf den Tisch gelegt wurden: eine Liste mit niedrigeren Preisen und das Kündigungsschreiben".

Argumentiert würden Kündigungen häufig mit "mangelnder Qualität", erklärt ein ehemaliger Büromitarbeiter aus Hall das Vorgehen. "Aber die kann bei diesen Rahmenbedingungen nicht passen." Einen detaillierten Fragenkatalog zu diesen Vorwürfen ließ DPD unbeantwortet und verwies auf die "Einhaltung aller gesetzlichen Bestimmungen sowie aller branchentypischen Gesetze" seinerseits.

Selbstständigkeit und Unternehmertum unterliegen einem gewissen Risiko, Verträge werden aus freien Stücken unterschrieben. Die Betroffenen mögen zu leichtgläubig gewesen sein, oder ihnen fehlte das unternehmerische Geschick. Doch die Aussagen der Betroffenen, die vorliegenden Dokumente und die Häufigkeit der Insolvenzen legen nahe, dass dieses Vorgehen bei DPD System hat.

"Mit Vorspielen falscher Ertragszahlen geködert"

Diesen Verdacht äußert auch Katarina Pokorny, Obfrau der Fachgruppe der Wiener Kleintransporteure in der Wirtschaftskammer Wien, im STANDARD-Gespräch. Sie beobachtet die Branche seit Jahrzehnten. Frächter würden systematisch "mit Vorspielen falscher Ertragszahlen geködert", diese würden viel Geld investieren und in einen "Strudel" geraten, dem sie kaum entkommen können. Vielfach würden Existenzen zerstört, weil Betroffene innerhalb weniger Monate mehrere Zehn- bis Hunderttausend Euro Schulden anhäufen.

Frächter verpflichten sich vertraglich, ein gewisses Gebiet im Auftrag von DPD zu beliefern. Bezahlt werden sie pro zugestelltem Paket – laut Aussagen und vorliegenden Dokumenten zwischen 90 Cent und 2,05 Euro pro Zustellung, für Expresszustellungen bis zu 2,50 Euro. Vor dem Ausliefern müssen Pakete im Depot vorsortiert und in die Transporter geschlichtet werden – was laut Aussagen von Fahrern und Frächtern zwischen zwei und vier Stunden täglich dauert. Die Fahrt vom Depot zum Liefergebiet könne bis zu eine Stunde je Richtung betragen. Frächter müssen ihre Fahrer für diese Zeit bezahlen, obwohl sie keine Pakete ausliefern, ergo kein Geld erwirtschaften. Nachfragen hierzu ließ DPD unbeantwortet und verwies auf die sich verändernden Rahmenbedingungen seit der Corona-Pandemie. Frächter behaupten, diese Probleme hätten schon Jahre vor der Pandemie bestanden.

Das "System DPD"

Eine Tour kostet die Frächter mehrere Tausend Euro monatlich: für Löhne, Steuern, Sozialversicherung, Kredite, Leasingraten, Sprit, Verschleißteile, Reparaturen und Strafen, die DPD verrechnet, wenn Fahrer keine DPD-Kleidung tragen oder Expresspakete zu spät zugestellt werden. Intern rechne man mit drei bis fünf Minuten pro zugestelltem Paket, sagte Gebrüder-Weiss-Geschäftsführer Daniel Neumann im Juni 2022 vor dem Landesgericht Innsbruck aus, also zwölf bis 20 Zustellungen pro Stunde.

Für den hypothetischen – und unrealistischen – Fall, dass ein Fahrer 20 Expresssendungen in einer Stunde zustellt, würde er 50 Euro erwirtschaften. Erst wenn einer seiner Fahrer zwischen 200 und 220 Pakete pro Tag zustelle, könne er seine Kosten decken, rechnet ein ehemaliger Frächter vor. Im "Optimalfall" sind das Arbeitstage von zehn Stunden, exklusive Vorsortierung und Anfahrt. Seine Angaben decken sich mit jenen anderer Frächter.

DPD Paketzusteller
Aus den inneren Bereichen des Lagers.
Privat

Aussteigen ist für viele Subunternehmer keine Option. Formal selbstständig seien die meisten Frächter, mit denen der STANDARD gesprochen hat, wirtschaftlich vollständig von DPD abhängig. Sie hätten investiert, oft für mehrere Hunderttausend Euro Transporter angeschafft oder Leasingverträge abgeschlossen, müssten Kredite bedienen, Mitarbeiter, Reparaturen, Versicherung und Steuern bezahlen.

Kann ein Frächter eine vereinbarte Tour nicht beliefern, etwa weil Geld für Fahrer, Transporter oder deren Reparatur fehlt, setze DPD Ersatzfahrer ein – für mehrere Hundert Euro täglich, die dem Frächter in Rechnung gestellt werden. Mehrere Fahrer, mit denen der STANDARD gesprochen hat, berichten, wie sie das "System DPD" nur mit Schulden von mehreren Zehntausend Euro verlassen konnten. Ein ehemaliger Frächter berichtet von mehr als 200.000 Euro, die sich im Laufe eines Jahres angehäuft hätten. Fragen nach Ersatzfahrern und deren Kosten sowie zu verschuldeten Systempartnern ließ DPD unbeantwortet.

Geht ein Unternehmen insolvent, zahlt die offenen Leasingraten, Steuern, Gehälter und Sozialversicherungsbeiträge meist die Allgemeinheit. Der Profit landet in der Tasche von DPD bzw. Gebrüder Weiss, bei Letzterem zwischen 2018 und 2021 zwischen 14 und 25 Millionen Euro jährlich. (Johannes Greß, 21.6.2023)