Flüchtlingskind vor fester Mauer
Der wohlhabende Norden will das Migrationsthema verdrängen, kritisiert Makrosoziologe Steffen Mau.
REUTERS/Mike Blake

Vollbesetzte Schiffe mit Flüchtlingen sinken im Mittelmeer. Auch deshalb wird von einer Festung Europa gesprochen. Die EU versucht die Außengrenzen durch Deals mit Staaten wie Tunesien zu schützen. Staatsgrenzen verschieben sich, rücken näher zu denen, die man nicht ins Land lassen will. Für die westliche Welt werden aber Reisen in andere Staaten immer einfacher. Was das bedeutet und warum Grenzen zu "Sortiermaschinen" werden, darüber sprach der Makrosoziologe und Migrationsexperte Steffen Mau kürzlich im Rahmen der Karl Popper Lecture in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und mit dem STANDARD.

STANDARD: Ihr aktuelles Buch heißt "Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert". Wer oder was wird an den Grenzen sortiert?

Mau: Es sind leider Menschen, viel weniger Güter und Kapital. Da gibt es diejenigen, denen ein Grenzübertritt immer schwerer gemacht wird, die auf vielfältige Barrieren treffen, und es gibt Menschen, für die Mobilität zum Alltag gehört, die nichts oder nur wenig tun müssen, um grenzüberschreitend reisen zu können. Es wird niemanden überraschen, dass die Unterscheidung zwischen gewollten und ungewollten Personen in einem deutlichen Nord-Süd-Gefälle umgesetzt wird. Mobile Menschen aus den USA oder aus Europa sind gewollt, Menschen aus Afrika oder aus asiatischen Ländern wie Afghanistan, Irak oder Syrien haben es schwerer als je zuvor, in ein anderes Land zu reisen. Es ist gefährlich für sie, es kostet unverhältnismäßig viel Geld.

STANDARD: Reisefreiheit wird als Grundrecht bezeichnet. Wenn sie heute nicht überall gleich ist, hat die Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung grundlegend versagt?

Mau: Wir gehen fälschlicherweise vom Mauerfall 1989 als dem Ende aller harten Grenzen aus. Das stimmt aber nicht. Damals gab es global fünf Prozent harte Grenzen, also Mauergrenzen, heute sind es etwa 20 Prozent. Der Grund: Es gibt zwei parallel laufende Trends, die eng miteinander verbunden sind. Die Globalisierung hat nicht nur Grenzöffnungen mit sich gebracht, sondern auch Grenzschließungen, nicht nur Mobilität, sondern auch Immobilität. Die beiden Aspekte gehören eng zusammen.

Migrationsexperte Steffen Mau
Migrationsexperte Steffen Mau.
IMAGO/Jürgen Heinrich

STANDARD: Wie manifestiert sich die Entwicklung für den begünstigten Norden?

Mau: Er konnte seine Mobilitätsmöglichkeiten stark erweitern. Diese Hierarchie nennt man "Power of Passports". Da öffnen sich viele Schranken, dank Smart-Border-Technologien wird man bald schon vorab erkennen, wer da einreisen will. Man muss sich aber vergegenwärtigen: 80 bis 90 Prozent der Menschheit saßen noch nie in einem Flugzeug. Heutzutage spielt auch das Thema Flucht aus Krisenregionen eine große Rolle. Wir bewegen uns auf eine "Festung Europa" zu. Man sollte das hinterfragen: Eine Festung wogegen? Sehr oft gegen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Hunger flüchten, um ihren Familie und sich ein Leben in Freiheit zu ermöglichen.

STANDARD: Wie wird die propagandistische Idee von einer "Festung Europa" umgesetzt?

Mau: Indem zum Beispiel Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, nach Tunesien reist und dem Land Geld anbietet, um Flüchtlingen aus ganz Afrika die Schifffahrt nach Europa zu verwehren. Die Außengrenzen Europas werden damit verlagert. Grenzen können also auch mobil sein, sie bewegen sich auf die Menschen zu, die Land und Kontinent verlassen wollen. Länder wie Tunesien werden so zum verlängerten Arm der europäischen Grenzkontrolle. Ähnliches wurde durch einen Deal der EU mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan umgesetzt.

STANDARD: Das Mittelmeer scheint für viele zur zusätzlichen unüberwindbaren Grenze zu werden. Welche Rolle spielt diese Barriere in Ihren Studien?

Mau: Seit 2014 sind über 20.000 Menschen an dieser Wassergrenze umgekommen. Erst kürzlich ist ein Schiff mit Flüchtlingen gesunken, hunderte Menschen sind gestorben. Diese Tragödien führen zu keinem Meinungsumschwung in Europa. Rechte Strömungen nützen seit Jahren die Fluchtbewegung für ihre Zwecke, sie erhalten unvermindert Zuspruch. Das eigentliche Problem wird dadurch nur weggeschoben, nicht gelöst. In Europa scheint es am wichtigsten zu sein, dass man moralisch nicht irritiert wird, dass also die Katastrophen nicht vor der Haustür passieren.

Menschen gehen vor einem riesigen Grenzzaun entlang.
Während in den USA die Grenzzäune in die Höhe wachsen, will Europa diese und die Flüchtenden am liebsten weit weg haben.
APA/Getty Images via AFP/GETTY I

STANDARD: Wie ließe sich das Problem lösen?

Mau: Der Norden muss sich seiner Verantwortung bewusst werden – zum Beispiel für den Klimawandel. Und er muss sich klarwerden, dass die Klimamigration künftig noch zunehmen wird. Daher sollte man Menschen, die um sauberes Wasser kämpfen, die aufgrund der Trockenheit in der Region zu wenig Nahrung vorfinden, die vor Dürre oder Flut flüchten, etwas Sinnvolles anbieten.

STANDARD: Was könnte das sein?

Mau: Ich bin Mitglied im deutschen Sachverständigenrat für Migration und Integration. Wir haben zuletzt verschiedene Einwanderungsmöglichkeiten hinsichtlich klimawandelbedingter Migration vorgeschlagen: einen Klimapass, mit dem man frei in andere Länder reisen darf, ein Klimavisum im Katastrophenfall, wenn die Heimat der Betroffenen vielleicht kurzfristig unbewohnbar wurde, und ein Klimavisum, das einen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Man muss einmal abwarten, ob das in irgendeiner Form umgesetzt wird. Zu wünschen wäre es. (Peter Illetschko, 25.6.2023)