Der Wu-Tang Clan im Jahr 2014. Vor 30 Jahren betrat die New Yorker Crew die Bühne und wurde zu einer der stärksten Kräfte im Hip-Hop.
Der Wu-Tang Clan im Jahr 2014. Vor 30 Jahren betrat die New Yorker Crew die Bühne und wurde zu einer der stärksten Kräfte im Hip-Hop.

1993 war ein gutes Jahr im Hip-Hop, schlechte gab es damals keine. Es erschienen Alben von A Tribe Called Quest und De La Soul, KRS-One debütierte eindrucksvoll mit Return of the Boom Bap, Snoop Dog tat dasselbe mit Doggystyle, auch Digable Planets verschafften sich erstmals Luft – und Cypress Hill verpesteten sie mit dicken Rauchschwaden gleich wieder. Und doch wird 1993 immer als das Jahr in der Geschichte des Hip-Hop gelten, in dem der Erstling des Wu-Tang Clan erschienen ist: Enter The Wu-Tang (36 Chambers).

Hotter than Hell: Der Wu-Tang Clan in den frühen 1990ern.
Hotter than Hell: Der Wu-Tang Clan in den frühen 1990ern.
imago images/United Archives

30 Jahre ist das her, am 11. Juli tritt der Clan in der Wiener Stadthalle auf. Auch abseits dieses Jubiläums touren zurzeit viele legendäre Hip-Hop-Acts durch die Welt. Denn der 11. August 1973 gilt als Geburtstag des Fachs.

Ein neuer Funk

An dem Tag vor 50 Jahren legte DJ Kool Herc bei einer Back-to-School-Party Platten auf. Er verwendete dafür zwei Plattenspieler, ein Mischpult und verschränkte erstmals isolierte Ausschnitte aus der einen mit solchen der anderen Platte zu einem Breakbeat. Das war bahnbrechend und schuf eine Musik, die zu einer der wichtigsten kulturellen Strömungen im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts wurde. Hip-Hop wurde ein "neuer Aggregatzustand des Funk". Zitat Werner Geier, selig. Der war Labelchef und Radiomensch bei der Ö3-Musicbox und als solcher der oberste Apostel des Genres hierzulande.

Hip-Hop transformierte Einflüsse aus Soul, Funk oder Jazz ins Jetzt, schuf aus schwarzer Tradition etwas Neues, was mithilfe von jungen Techniken wie Sampling immer weiter gedieh, immer neue Blüten trieb.

Hip-Hop war und ist eine reduzierte, oft rohe Kunst, die der Dringlichkeit ihrer Herkunft geschuldet ist. Im Falle von DJ Kool Herc waren das die Straßen der New Yorker Bronx. Sie gelten als die Wiege des Genres, das sich mit Rap ephemer und via Graffiti an den Wänden mittelfristig mitteilte. Hinzu kam eine Lebenslust, die in Form des Breakdance eine originäre Ausdrucksform zu den Breakbeats gebar.

Wu-Tang Clan - Da Mystery Of Chessboxin' (Official Video)

All das wurde ambitioniert und wettkampfmäßig in Battles betrieben – so fand manch eine Gruppe zusammen. Der Sound kam aus dem herkunftsloyal gerufenen Ghettoblaster, wegen seiner Lautstärke auch Boombox genannt. Er war das mobile Soundsystem des Genres, dessen Medium die Kassette war, das Mixtape.

In den 1980ern wuchs Hip-Hop in den USA vom Ghettophänomen zum allgegenwärtigen urbanen Soundtrack. Er wurde technisch raffinierter, zog eine Unzahl kreativer Köpfe an und betrat in den 1990ern endgültig die Weltbühne, indem es Stück um Stück in den Mainstream wucherte und zusehends das weiße Publikum eroberte – der Welterfolg der Fugees mit The Score (1996) gilt als einer jener Momente, an denen sich das festmachen lässt.

Reichlich Tschin-Bumm

In den 1990ern erschienen viele Meisterwerke des Fachs, dennoch genießt Enter The Wu-Tang (36 Chambers) einen Sonderstatus. Der 1992 in New York gegründete Clan mystifizierte sich von Beginn an selbst. Mit einer schrägen Mischung aus fernöstlicher Philosophie – ein bisserl Shaolin, Kung-Fu und reichlich Tschin-Bumm –, die B-Movies und ihre Antihelden daraus generiert hatten. Hau drauf, und Schluss.

Der Clan pflegte das obligatorische Gang-Image: "Wu-Tang Clan ain’t nothin’ to fuck with", heißt es auf dem Album. Dieses war vielschichtig wie wenige andere. Zwar baute es auf die übliche Mischung aus kühlen Samples und funky Programmierung. Doch die charismatische Mannschaft mit ihrer originellen Rollenverteilung verlieh dem Werk gleich mehrere Profile. Der Wu-Tang Clan erwies sich so nicht bloß als kollektives Vehikel, sondern als Keimzelle, aus der die einzelnen Mitglieder nach Lust und Laune ausbrachen.

Wu-Tang Clan - Tearz (Official Audio)

Es entstand neben dem Clan-Katalog ein Kanon aus weiteren fantastischen Alben, der die Sonderstellung des Ordens von Wu untermauerte: etwa Ghostface Killah mit dem Album Ironman, etwa Ol’ Dirty Bastard mit Return to the 36 Chambers: The Dirty Version, dessen tremolierende Raps nahe am Wahnsinn gebaut waren, was er bei einem Wien-Auftritt nachhaltig belegen sollte. Oder Raekwon mit Only Built 4 Cuban Linx. Oder Method Man mit Tical oder GZA mit Liquid Swords ...

So entstand ein Netzwerk aus miteinander verknüpften Karrieren, in dessen Mitte Produzent RZA als das spirituelle Mastermind saß und die Fäden zog. RZA heißt bürgerlich Robert Fitzgerald Diggs und ist heute 53 Jahre alt. Er gab dem Flohzirkus einerseits die Richtung, andererseits genossen alle maximale Freiheit.

Der Irre mit dem offenen Hosentürl

RZA war seinerseits Teil der 1994 zum ersten Mal veröffentlichenden Gravediggaz. Eine Supergroup, die Hip-Hop eine weitere Facette bescherte: ein Horrorcore genanntes Unterfach, das von zäh malenden Beats bestimmt war. Das Duo New Kingdom brachte diese Ästhetik auf Paradise Don’t Come Cheap zur Meisterschaft. Auf der anderen Seite des Clan-Spektrums sampelte Ghostface Killah Gospel und Deep Soul. Und der Ol’ Dirty Bastard gab den genialen Irren mit dem offenen Hosentürl – eine leichte Übung für den 2004 mit nur 35 Jahren gestorbenen Russell Jones, der sich einfach wesenstreu blieb.

Wu-Tang Clan - Wu-Tang Clan Ain't Nuthing Ta F' Wit (Official Video)

Hinter all dem stand der Ehrgeiz, schwarzes Unternehmertum zu etablieren, das in die Filmwelt einsickerte und in eine bis heute bestehende Modelinie mündete: Wu Wear. Diese Standbeine sollten den Clan unabhängig vom weiß dominierten Musikgeschäft machen.

Sieben Alben veröffentlichte der Wu-Tang Clan im Kollektiv, nicht alle sind so genial wie das Debüt, doch in seinem Einzugsgebiet sind dutzende weitere entstanden. Und nicht wenige davon sind mitverantwortlich dafür, dass die 1990er als Goldene Ära des Hip-Hop gelten. Ein Konzertbesuch ist so betrachtet ein historischer Auftrag. (Karl Fluch, 2.7.2023)