Tatort Fußballplatz: Immer wieder kommt es im Nachwuchsbereich zu verbalen und körperlichen Attacken.
APA/dpa/Boris Roessler

Der Trainer ist ein Sturschädel. Der Schiedsrichter hat ihm die Rote Karte gezeigt, der Coach aber weigert sich, den Platz zu verlassen. Die Spieler der gegnerischen Mannschaft werden ungeduldig, es kommt zu Handgreiflichkeiten. Was ein schöner Fußballnachmittag hätte werden können, endet mit einem Spielabbruch. So berichten es Augenzeugen. Zugetragen haben sich die Szenen am vergangenen Sonntag in Wien. Gespielt haben zwei unterklassige Nachwuchsmannschaften. Ergebnis im Grunde irrelevant. Und doch handelt es sich bei der Eskalation nicht um einen Einzelfall.

Julia Hess und Ingo Mach sind im Österreichischen Fußballbund (ÖFB) für soziale Verantwortung zuständig. Gewaltprävention ist einer ihrer Schwerpunkte. Über ein Jahr lang wurde der Ist-Zustand analysiert. "Gewohnheiten werden nicht am Stadioneingang abgegeben", sagt Hess. "Konflikte werden auch in den Fußball getragen", sagt Mach. Quantitativ sei es nicht zu einer Zunahme der Gewalttaten gekommen, die Intensität habe sich allerdings gesteigert. Hess: "Es kommt zu extremeren Situationen. Wir reden nicht nur von körperlicher Gewalt. Vieles verlagert sich in den digitalen Bereich: Mobbing, Diskriminierung. Gewalt ist nicht mehr so klar zu benennen, sie ist vielfältiger geworden. Das betrifft aber nicht nur den Fußball, sondern ist ein gesamtgesellschaftliches Problem."

Schiedsrichter als Zielscheibe

Immer wieder werden Schiedsrichter zur Zielscheibe der Attacken. Am 15. April etwa bedrohte und bespuckte der Co-Trainer des SC Hatlerdorf aus Dornbirn den Referee in der Kabine. Die Polizei musste einschreiten. Der Verein der 1. Landesklasse zog die Konsequenzen und suspendierte den Täter. Der Strafausschuss des Vorarlberger Fußballverbands verhängte mit einer Sperre von 72 Spielen die Höchststrafe. Und noch mal das Ländle, nur zwei Wochen später: Im Waldstadion von Blau-Weiß Feldkirch attackiert ein Spieler des Landesmeisters den Schiedsrichter nach einer Gelb-Roten Karte körperlich. Der Mann entschuldigt sich später reumütig – trotzdem wird auch er für 72 Spiele gesperrt.

Julia Hess: "Der Zweifel gegenüber Obrigkeiten hat sich verschärft, der Hass auf Schiedsrichter ist gewachsen".
Foto: ÖFB

Die Liste der Vorfälle im Amateur- und Nachwuchsfußball ist beliebig fortsetzbar. Alles nur ein Spiegelbild der Gesellschaft? "Seit der Pandemie ist es schlimmer geworden. Der Zweifel gegenüber Obrigkeiten hat sich verschärft, der Hass auf Schiedsrichter ist gewachsen", sagt Hess. Die IG Referee appelliert indes an Verbände und Vereine, das gestiegene Gewaltpotenzial bereits im Vorfeld entsprechend zu bekämpfen. Das Schiedsrichterwesen kämpft in diesen Zeiten mit einem akuten Mangel an Fachkräften. Die Situation wird nicht besser, wenn Unparteiische Woche für Woche zum Freiwild erklärt werden.

Gewalttätige Jugendliche

Auch die Gewalt unter Jugendlichen ist ein Thema. In Wien ist derzeit ein Teenager gesperrt, weil er einem Gegenspieler während einer U16-Partie die Nase gebrochen hat. Alarmierend ist ein Fall aus Deutschland. Bei einem internationalen Nachwuchsturnier wurde ein 15-Jähriger in Frankfurt nach einem Match von einem Gegenspieler durch Faustschläge so schwer verletzt, dass er an den Folgen verstarb. Gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen möchte der ÖFB mit der Initiative "Lernkurve Stadion" ansetzen. Auf der Tribüne des Wiener Ernst-Happel-Stadions sollen 13- bis 24-Jährigen Werte wie Respekt, Fairness und Teamplay vermittelt werden.

Ingo Mach: "Der Druck wird auf die Kinder übertragen"
Foto: ÖFB

Hess spricht im Rahmen der Workshops mit den Jugendlichen, sie will die Situation nicht schönreden: "Sie berichten von ihren Erfahrungen mit Gewalt. Manche haben zu Hause gelernt, dass Gewalt eine vermeintliche Lösung ist. Die Lebensrealität von vielen Jugendlichen mit Fluchtgeschichte oder Migrationshintergrund ist nicht gewaltfrei. Unser Ziel muss es sein, ihnen andere Handlungsmöglichkeiten im Konfliktmanagement aufzuzeigen." Und wie reagieren die Kids? "Manche verstehen die Theorie, können sie laut eigener Aussage aber nicht anwenden. In einem mehrstündigen Workshop kann man vieles nur anreißen. Aber wir schaffen eine Basis."

Nicht ausgebildete Trainer

Und dann gibt es noch Eltern und Trainer. Sie sollten Vorbilder sein, sind es aber nicht immer. Manche Eltern verhalten sich, als würden ihre Kleinen gerade um die Champions League spielen. "Familienmitglieder können mit Emotionen in manchen Fällen nicht so gut umgehen, der Druck wird auf die Kinder übertragen", sagt Mach. Die Hälfte der Nachwuchstrainer hat wiederum schlichtweg keine einschlägige Ausbildung, ist bei aller Begeisterung für den Sport fachlich und pädagogisch fehl am Platz: "Ziel muss es sein, mehr Trainer adäquat zu schulen. Trainerinnen und Trainer müssen Vertrauenspersonen sein. Sie müssen Respekt, Fairness und Verantwortung vorleben und transportieren."

Der ÖFB hat 300.000 aktive Mitglieder. Bleiben Initiativen, Workshops und Kampagnen da nicht ein Tropfen auf den heißen Stein? Hess: "Wir werden nicht alle Spieler erreichen. Gerade deshalb müssen wir bei Multiplikatoren wie Trainern und Jugendleitern ansetzen. Es ist eine Mammutaufgabe. Wir geben alles, um die Situation zu verbessern oder zumindest zu stabilisieren." (Philip Bauer, 23.6.2023)