Neoklassizistische Darstellung der Sappho auf einer weißen Marmorbank in griechischer Landschaft, die schwarzhaarige Frau trägt ein lachsfarbenes, leicht durchsichtiges Kleid und blickt den Betrachter oder die Betrachterin an.
Die Fantasie vieler Kunstschaffender wurde von Sappho beflügelt. Der Titel dieses Werks des Neoklassizisten John William Godward lautet übersetzt "Träumerei (Zu Zeiten der Sappho)".
imago/Artokoloro

Ihr Name ist Synonym für gleichgeschlechtliches Begehren unter Frauen: Die große Lyrikerin Sappho lebte um 600 vor Christus und stammte von der griechischen Insel Lesbos. Sie ist der Grund, weswegen weibliche Homosexualität als lesbisch bezeichnet wird. Noch deutlicher macht es die "sapphische" Liebe. Dieser Begriff ist im deutschsprachigen Raum weniger geläufig, umfasst aber auch bisexuelle Frauen.

Dass Sappho Männer und Frauen begehrt haben soll, geht auf eine Legende zurück, die Ovid prägte: Er erwähnte gleichgeschlechtliche Beziehungen, aber auch den Fährmann Phaon, der von Aphrodite zum schönsten Mann der Welt gemacht wurde. Die Liebe wurde nicht erwidert, die Dichterin gab in ihrer Verzweiflung Kunst und Leben auf und stürzte sich von einem Felsen in den Tod.

Auch dieses Fresko wird häufig mit der antiken Dichterin in Verbindung gebracht.
IMAGO/Fine Art Images/Heritage Images

Weiblicher Homer

Tatsächlich gibt es kaum verlässliche Informationen über Sapphos Leben. Auch von ihrem umfangreichen Werk, das sich auf 10.000 Gedichte belief, sind nur mehr etwa 200 Fragmente erhalten, die mitunter nur aus einem Wort bestehen. Dabei wurde sie schon in der Antike zu den größten Dichterinnen und Dichtern gezählt. Der Philosoph Platon bezeichnete sie als zehnte Muse, anderen galt sie als weiblicher Homer. Jahrhunderte später mutmaßte sein Kollege Friedrich Schlegel: "Hätten wir noch die sämtlichen sapphischen Gedichte: Vielleicht würden wir nirgends an Homer erinnert."

Heute kennt man keine Autorin, die vor ihr schrieb. Sie wurde nicht nur für viele weitere Frauen der Literaturgeschichte zum Vorbild, sagt Literaturwissenschafterin Laura Untner von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW): "Auch ihr Stil und ihre Technik sind beeindruckend und ein wichtiger Grund für ihre Kanonisierung in der Antike, mit der sapphischen Strophe entwickelte sie eine eigene Strophenform." Untner ist Herausgeberin eines kürzlich erschienenen Bandes, der wichtige Beispiele der deutschsprachigen Literatur versammelt, die auf Sappho zurückgriff.

Aquarellbild von Sappho, die sich von einem Felsen stürzt und eine Laute in den Armen hält
Berühmt wurde die Legende von Sappho und dem von ihr angebeteten Phaon, die auf dem Cover des Buches "Sappho. Texte zur literarischen Rezeption im deutschsprachigen Raum" (herausgegeben von Laura Untner, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2023, 52,50 €) dargestellt ist. In der Erzählung stürzt sich Sappho wegen unerwiderter Liebe von einem Felsen.
Verlag Königshausen & Neumann

Bekannt ist Sappho vor allem für Liebeslyrik, die teils auch erotisch gelesen werden kann. Das sogenannte Hochzeits- oder Eifersuchtsgedicht richtet sich wohl an eine Braut, in die das lyrische Ich womöglich verliebt ist. Fast ausschließlich sind es Frauen, die in Sapphos Lyrik vorkommen und an die viele Gedichte gerichtet sind. Auch eine Tochter namens Kleïs wird erwähnt.

Lyrisches Ich ohne Penismann

Dass die einflussreiche Autorin so stark mit dem Inhalt ihrer Gedichte verknüpft wird, hat mit der literarischen Tradition zu tun: "In der antiken Lyrik ist der individuelle Ausdruck, der durch Gedichte möglich ist, sehr oft autobiografisch geprägt", sagt Untner. Außerdem bezeichnet sich das lyrische Ich in mehreren Werken selbst als Sappho.

Wenngleich das alles nahelegt, dass die Dichterin gleichgeschlechtliche Beziehungen pflegte, können moderne Begriffe wie homosexuell und bisexuell kaum auf sie zutreffen, sagt die Literaturwissenschafterin: "Das heutige Konzept von Sexualität gab es in der Antike nicht." Als unplausibel gilt zumindest, dass sie mit einem gewissen Kerkylas von Andros verheiratet war. Dabei dürfte es sich um einen Scherz handeln, denn der vermutlich fiktive Name lässt sich übersetzen mit "Penismann von der Mannesinsel".

Verpönter Lebenswandel

Schon früh hielten besorgte Sittenwächter die verschiedenen Facetten von Sappho für unvereinbar, sagt Untner. Einerseits ging es um die größte Dichterin aller Zeiten, andererseits kursierten Gerüchte, dass sie ausschweifend und freizügig lebte und es im Gegensatz zum Versmaß mit gesellschaftlichen Normen nicht so streng nahm. Zu diesem Bild dürfte auch der Kreis an Frauen beigetragen haben, der sich vermutlich um sie herum versammelte. Die Freundinnen oder Schülerinnen tauschten sich über Poesie, Musik, Mode und Weiblichkeit aus, womöglich kam es zu erotischen Beziehungen.

Literaturwissenschafterin Laura Untner
Literaturwissenschafterin Laura Untner beschäftigte sich intensiv mit der Sappho-Rezeption.
Hannah Gehmacher

Die Strategie, um Sapphos Ruf zu retten, war simpel: "Etwa dreihundert Jahre nach ihren Lebzeiten erfand man eine zweite Sappho", sagt Untner. "Bei der einen Person handelte es sich um eine tugendhafte Dichterin, die andere wurde als leidenschaftliche, hypersexuelle und auch gleichgeschlechtlich liebende Frau dargestellt." Das Unterfangen ging so weit, dass es in einem byzantinischen Lexikon zwei Einträge zum Namen Sappho gibt – inklusive unterschiedlicher Geburtsorte und leicht abgewandelter Lebensgeschichten. "Dass es sich dabei nur um eine Verteidigungsstrategie handelte und es sich nicht um zwei verschiedene Frauen handelte, ist in der Forschung Konsens."

"Deutsche Sappho", Grillparzer und Jandl

Auch in der späteren Rezeptionsgeschichte kam es immer wieder zu Versuchen, ein möglichst sittsames Bild von der griechischen Lyrikerin zu zeichnen. Jahrhundertelang war bekannt, dass Sappho als homosexuell Begehrende verschrien war. Oberflächlich angesprochen wurde dies gemäß dem Zeitgeist aber kaum, insbesondere im deutschsprachigen Raum nicht, sagt die Sappho-Expertin. Untner trug für ihre bisherigen Recherchen rund 1.000 deutschsprachige literarische Texte ab dem 15. Jahrhundert zusammen, 800 davon waren in der Fachliteratur noch unerwähnt.

Sappho (in einem gelben Kleid) sitzt mit Erinna (rotes Kleid) in einem Garten, umarmt sie und küsst sie.
Auf diesem Gemälde stellte der Maler Simeon Solomon die berühmte Sappho (rechts) mit der Dichterin Erinna dar.
imago images/Artepics

Einen Höhepunkt erreichte die deutschsprachige Sappho-Rezeption bereits im 18. Jahrhundert, was vor allem an einer Lyrikerin lag. Anna Louisa Karsch war eine der ersten deutschen Autorinnen, die mit ihren Werken finanziell unabhängig wurden. Zeitgenossen bezeichneten sie als "deutsche Sappho", in 120 eigenen Gedichten bezog sich Karsch auf das antike Vorbild.

Noch heute namhafte Autorinnen und Autoren griffen das Werk der griechischen Wortkünstlerin, vor allem aber die Sappho-Phaon-Legende über den Suizid aus unerwiderter Liebe auf. Sie erscheint oft nur in Anspielungen, etwa bei Bettina von Arnim, aber auch als Thema eines ganzen Gedichts (Ernst Jandls "computergedicht nr. 2") und als vollständiges Trauerspiel des österreichischen Nationaldramatikers Franz Grillparzer.

Katzen und Fanartikel

Während hier zumeist die heterosexuelle Liebe im Vordergrund stand, kam die Assoziation mit gleichgeschlechtlichem Begehren im englischsprachigen Raum viel früher vor. "Ab dem 18. Jahrhundert gab es sogar einige medizinische Schriften, in denen Sappho als frühestes Beispiel einer sogenannten Tribade genannt wird – eine abschätzige Bezeichnung für Frauen, die mit anderen Frauen sexuell verkehren", sagt Untner. Später wurden die Begriffe "tribadisch", "sapphisch" und "lesbisch" synonym verwendet.

So entwickelte sich Sappho zum besonderen Interesse liberaler und gleichgeschlechtlich liebender Frauen in der Literatur. Dazu gehörten die Wahlpariserin und Salonnière Natalie Clifford Barney und auch Virginia Woolf, deren Katze Sappho hieß.

Heute ist die antike Dichterin eine queere Ikone, Merchandise-Artikel inklusive. Und noch nie wurde sie so oft zitiert. Ein Sappho-Fragment, das freilich verschieden interpretiert wird, steht sinnbildlich auch dafür, dass es schon immer Menschen gab, die von der heute heteronormativ genannten Normalität abwichen: "Mancher wird sich erinnern an uns, sage ich, auch weiterhin." (Julia Sica, 25.6.2023)