Lange Jahre bestand kein Zweifel, wer im Kreml die Zügel in der Hand hält: Selbst in der Amtszeit, als Wladimir Wladimirowitsch Putin den Präsidentensessel aus verfassungsrechtlichen Gründen seinem Beiwagerl Dmitri Medwedew überlassen musste und als Ministerpräsident ins zweite Glied zurücktrat, war klar, wer tatsächlich das Sagen hat. Nun sind durch den Marsch von Jewgeni Prigoschins Wagner-Söldnern ernste Zweifel aufgetreten, dass der Hausherr im Kreml tatsächlich noch die Kontrolle über das Geschehen hat.

Putins Macht stützt sich in vielen Fällen auf die Silowiki, eine Gruppe von Personen mit militärischem und geheimdienstlichem Hintergrund. Diese einen im Wesentlichen gemeinsame Ziele und konservative, großrussische Ansichten, wobei es ihnen zum Großteil mehr um die Macht und weniger um extremistische Ideologie geht.

Wladimir Putin
Kreml-Chef Wladimir Wladimirowitsch Putin.
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In seinem TV-Auftritt am Samstag warf Putin Prigoschin Verrat und einen "Stich in den Rücken" vor. Nach diesen heftigen Ansagen ist die wenige Stunden später in Aussicht gestellte Straffreiheit für Prigoschin und seine Söldner zumindest fragwürdig. Auch wenn die Ermittlungen nun offiziell eingestellt sind: Prigoschin und seine Leute können sich wohl nicht mehr sicher fühlen, solange Putin an der Macht bleibt.

Waleri Wassiljewitsch Gerassimow

Waleri Gerassimow
Generalstabschef Waleri Gerassimow.
APA/AFP/Sputnik/SERGEY FADEICHEV

Der Armeegeneral Waleri Gerassimow hat eine klassische Militärkarriere hinter sich. Generalstabschef wurde er 2012 kurz nachdem Sergej Kuschugetowitsch Schoigu das Verteidigungsministerium übernommen hatte. Er ist ein Vertreter hybrider Kriegsführung, was zu Medienberichten über eine sogenannte Gerassimow-Doktrin geführt hat. Den Truppenaufmarsch an den ukrainischen Grenzen hat er ebenso mitzuverantworten wie den russischen Einsatz in Syrien und den Abschuss des Malaysia-Air-Fluges MH17 im Donbass. Im Jänner dieses Jahres erhielt Gerassimow die Leitung aller russischen Einheiten in der Ukraine überantwortet. Gerassimow wurde wie auch Schoigu von Prigoschin direkt für die logistischen und strategischen Probleme an der Front verantwortlich gemacht. Gut möglich, dass in absehbarer Zeit Sergej Wladimirowitsch Surowikin den Generalstab übernimmt.

Sergej Wladimirowitsch Surowikin

Sergej Surowikin
General Sergej Surowikin.
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Der Armeegeneral ist für seine Skrupellosigkeit bekannt. Als Hauptmann und Kommandeur einer Schützenbrigade war er 1991 am Augustputsch gegen Michail Gorbatschow beteiligt. Seine Soldaten überfuhren drei Demonstranten und eine Barrikade mit einem Panzer, Surowikin musste deshalb sechs Monate ins Gefängnis. Nach Gorbatschows Rücktritt stieg er in der Militärhierarchie auf, illegaler Waffenhandel brachte ihm eine Bewährungsstrafe ein.

Im Oktober 2022 übernahm Surowikin den Oberbefehl über die Invasionstruppen in der Ukraine, unter seiner Verantwortung begann umgehend ein dauernder Angriff auf die zivile Infrastruktur wie das Stromnetz. Außerdem wurden umfassende Verteidigungsanlagen im Süden der Ukraine angelegt. Dennoch hatte Surowikin den Posten des Oberbefehlshabers über die Invasionstruppen nicht lange inne. Schon im Jänner wurde er durch Gerassimow ersetzt und musste sich mit der Stellvertreterrolle begnügen.

Surowikin dürfte eine der Hoffnungen Prigoschins bei seinem Aufstand gewesen sein. Doch während des Wagner-Vormarschs auf Moskau meldete sich der General gegen den Söldnerführer per Video zu Wort: Man dürfe dem Feind nicht in die Hände spielen, mahnte er die Wagnerianer zum Rückzug. In dem Video hatte Surowikin eine automatische Waffe auf dem Schoß liegen, eine unmissverständliche Drohung.

Sergej Kuschugetowitsch Schoigu

Sergej Schoigu
Verteidigungsminister Sergej Schoigu.
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Der Langzeitverteidigungsminister wird schon seit Beginn der russischen Invasion immer wieder als Ablösekandidat gehandelt. Trotz der desaströsen Bilanz des Krieges in der Ukraine hält Putin aber an seinem Minister offenbar immer noch fest. Schließlich gehört Schoigu zum Kreis der Silowiki und galt darüber hinaus sogar als Freund Putins, wenn es denn auf dieser Ebene überhaupt so etwas wie Freundschaft geben kann. Bald nach dem Überfall auf die Ukraine verschwand Schoigu für längere Zeit von der Bildfläche, was Gerüchte brodeln ließ, dass der Minister in Ungnade gefallen oder gar bereits tot sei.

Schoigu unterhält Medienberichten zufolge selbst eine eigene Söldnertruppe namens Patriot, die als direkte Konkurrenz zu Wagner auch in der Ukraine eingesetzt worden sein soll – ein weiterer plausibler Grund für die Verwerfungen mit Prigoschin. 

Am Montag nach dem chaotischen Wochenende des Wagner-Aufstandes veröffentlichte das Verteidigungsministerium undatierte Bilder, die Schoigu beim Truppenbesuch in der Ukraine zeigt. Signalisiert werden sollte damit wohl Normalität. Eine Auswechslung des Ministers wird, wenn überhaupt, erst in gebührendem zeitlichen Abstand zum Wagner-Aufstand erfolgen, denn Putin wird Prigoschin keinesfalls einen solchen Sieg gönnen.

Nikolaj Platonowitsch Patruschew

Nikolai Patruschew
Putins rechte Hand Nikolaj Patruschew.
via REUTERS

Der Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation Nikolaj Platonowitsch Patruschew war lange Jahre Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB und folgte in dem Amt Putin direkt nach. Als Geheimdienstchef soll er auch für den Giftmord an Alexander Litwinenko verantwortlich sein. Der Silowik gilt als der engste Vertraute Putins, die beiden kennen einander bereits seit den 70er-Jahren. Berichten zufolge soll er auch als Stellvertreter im Falle einer Verhinderung des Kreml-Chefs fungieren. Jedenfalls ist er einer der Chefideologen im Kreml: ein absoluter Hardliner mit extremistischen und nationalistischen Ansichten und ein Kriegstreiber gegen die Ukraine und den Westen. Er glaubt, der Westen sei seit Jahren in einem nicht erklärten Krieg mit Russland. Patruschew fällt eine Schlüsselrolle bei den Entwicklungen im Kreml zu.

Alexej Gennadjewitsch Djumin

Alexej Djumin
Alexej Djumin ist der Mann im Hintergrund.
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Der Gouverneur der Oblast Tula gilt als enger Putin-Vertrauter. Er war persönlicher Leibwächter Putins – auch während dessen Amtszeit als Premier und stellvertretender Leiter des präsidentiellen Sicherheitsdienstes. Einst soll er Putin sogar vor einem Bären gerettet haben. Er habe diesen aber nicht erschossen, sondern nur mit Schüssen vertrieben, wofür er vom Präsidenten gelobt wurde, lautet die Fama. Vor seiner Ernennung zum Gouverneur war er kurzzeitig Schoigus Stellvertreter im Verteidigungsministerium. Auch deswegen gilt er als potenzieller Nachfolger Schoigus, falls dieser von Putin abberufen wird. Die Zusammenarbeit zwischen Schoigu und Djumin im Ministerium soll damals jedenfalls nicht funktioniert haben.

Nach dem Wagner'schen Marsch auf Moskau wurde berichtet, dass der von der belarussischen Führung bekanntgegebene Deal zwischen dem Kreml und Prigoschin nicht von Lukaschenko ausgehandelt worden sein soll, sondern von Djumin. Das Pressebüro des Gouverneurs ließ dies dementieren, allerdings zeigt die Geschichte, dass Djumin eine relevante Machtposition zugebilligt wird.

Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin

Jewgeni Prigoschin
Söldnerchef Jewgeni Prigoschin.
APA/AFP/TELEGRAM/@concordgroup_o

Zu Sowjetzeiten saß Prigoschin wegen Betrugs und Raubes jahrelang im Gefängnis. Nach seiner Freilassung versuchte er sich in der Gastronomie. Die Erzählung besagt, dass Putin in seinem Restaurant in St. Petersburg zu speisen pflegte und sich die beiden dort kennenlernten. Jedenfalls erhielt Prigoschin den Spitznamen "Putins Koch", allerdings auch deshalb, weil seine Firma Concord lukrative staatliche Aufträge für die Essensversorgung von Schulen, Kindergärten und der Armee erhielt. Er selbst weist den Spitznamen zurück: "Ich kann überhaupt nicht kochen!"

Des Weiteren ist Prigoschin im Bereich der Desinformation und der Propaganda aktiv und betreibt eine sogenannte Trollfabrik. Ab 2012 baute er gemeinsam mit dem Neonazi Dmitri Utkin die Söldnertruppe Wagner auf. An den verschiedenen Einsatzorten seiner Truppe zapfte Prigoschin auch parallel Geschäfte im Öl- und Bergbaubereich an und machte seine Privatarmee so zu einer milliardenschweren Goldgrube. Beim Einsatz in der Ukraine geriet Prigoschin allerdings mit der Armeeführung in Konflikt. Er schoss sich in seiner Kritik am Ukraine-Feldzug insbesondere auf Schoigu und Gerassimow ein. Beiden warf er Inkompetenz vor. Und so war wohl das Hauptziel seines "Marsches für Gerechtigkeit" auch eine personelle Änderung in Ministerium und Generalstab. Über eine Auswechslung Schoigus und Gerassimows wird spekuliert, unmittelbar dürfte der Schritt jedoch nicht bevorstehen.

Ramsan Achmatowitsch Kadyrow

Ramsan Kadyrow
Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow.
REUTERS

Der Führer der russischen Teilrepublik Tschetschenien ist Putin treu ergeben. Schon sein Vater Achmat hatte sich 1999 auf die Seite des Kreml und von Putin geschlagen, obwohl er im ersten Tschetschenienkrieg Mitte der Neunzigerjahre noch den Jihad gegen Russland ausgerufen hatte.

Der Generaloberst der russischen Armee ist Befehlshaber der Kadyrowzy und der Truppe Achmat – Erstere war Kadyrows Privatarmee und wurde in die Putin direkt unterstellte Nationalgarde eingegliedert. Kadyrow ist damit direkter Konkurrent Prigoschins im Warlordbusiness – das Versagen der russischen Armee in der Ukraine gibt den Söldnertruppen mehr Gewicht und befeuert diese Konkurrenz. Prigoschins ständige Beschwerden über die russische Militärführung teilt der um die Putin'sche Gunst wetteifernde Kadyrow jedoch nicht, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Stattdessen kamen aus seiner Ecke regelmäßig Untergriffe gegen Wagner. Als Prigoschins Truppen am Samstag Rostow am Don besetzten und sich Richtung Moskau auf den Weg machten, schickte Kadyrow seine Truppen hinterher, allerdings sollen sie im Stau stecken geblieben sein. In Moskau sollten Berichten zufolge 3.000 Kadyrow-Kämpfer zur Sicherung eingesetzt worden sein – nachdem Prigoschins Truppen ohnehin bereits umgedreht hatten. Kadyrow führt in Tschetschenien ein korruptes und despotisches Regime, das sich nicht um Menschenrechte kümmert. Seine Gegner lässt der Mann mit dem markanten Bärtchen auch außerhalb Russlands verfolgen. Wenn das Regime im Kreml dereinst stürzt, wird Kadyrow kaum mit untergehen: Entweder würde er sich unabhängig machen oder opportunistisch einem neuen russischen Machthaber andienen.

Alexander Grigorjewitsch Lukaschenko

Alexander Lukaschenko
Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko.
APA/AFP/SPUTNIK/ILYA PITALEV

Der belarussische Machthaber war ein Politoffizier einer Panzertruppe in der Sowjetarmee. Er unterstützte den Augustputsch gegen Gorbatschow, und als sich Belarus für unabhängig erklärte, soll er nach eigener Erzählung der einzige Abgeordnete gewesen sein, der gegen die Loslösung aus der Sowjetunion stimmte. Lukaschenko träumt bis heute von einem Revival der Sowjetunion. In einem Interview mit dem russischen Propagandisten Wladimir Solowjew schwadronierte Lukaschenko einmal, dass ihm Putin den Rang eines Obersts versprochen habe. Auf den Hinweis, dass er als Präsident von Belarus nicht einen Offiziersrang in der russischen Armee haben könne, erklärte Lukaschenko, dass er ja Oberst der Sowjetarmee sein könne.

An die Macht kam der Kopf eines kleptokratischen Regimes ausgerechnet, nachdem er als Vorsitzender des parlamentarischen Antikorruptionsausschusses dem Präsidenten und anderen Regierungsmitgliedern Korruption vorgeworfen hatte. Diese wurden durch eine Vertrauensabstimmung gestürzt, und in der folgenden Wahl wurde Lukaschenko 1994 ins Präsidentenamt gewählt. Dieses hat er bis heute inne, allerdings nur dank offensichtlichen Wahlbetruges. An der Macht konnte er sich nur dank der Unterstützung des Kreml halten, weswegen er Putin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.

Ob Lukaschenko nun ein Sieger oder doch ein Verlierer aus der Wagneriade hervorgeht, wird die Zukunft zeigen: die Anwesenheit Prigoschins und eventuell von Teilen seiner Truppen könnte sowohl zur Stabilisierung als auch zur Destabilisierung seines Regimes beitragen. (Michael Vosatka, 27.6.2023)