Russlands Präsident Wladimir Putin
Russlands Präsident Wladimir Putin im Kreml.
IMAGO/Mikhail Tereshchenko

Wenn Timothy Snyder und Ivan Krastev, zwei intellektuelle Schwergewichte mit Fokus auf Osteuropa, miteinander über den "russo-ukrainischen Krieg und die Zukunft der Welt" debattieren – unter der Leitung des eminenten Osteuropakenners Mischa Glenny –, dann hat Wien eine bitter benötigte Gelegenheit, die Ereignisse in unserer Nachbarschaft auf höchstem Niveau zu reflektieren. Bei der Debatte am Montagabend im Institut für die Wissenschaften vom Menschen waren allerdings, soweit bekannt, keine österreichischen Regierungsmitglieder anwesend.

Sie hätten zum Beispiel hören können, was Timothy Snyder zu der konventionellen Weisheit zu sagen hat, man dürfe Putin nicht in die Ecke drängen, weil er sonst zu furchtbaren Reaktionen fähig wäre: "Wir haben jetzt anlässlich des Putschversuchs von Prigoschin gesehen, was Putin macht, wenn er in die Ecke gedrängt wird: Er rennt weg, steigt in ein Flugzeug; er schreibt einen Scheck an Prigoschins Leute aus; er ruft 'schachmatt', und er redet von etwas anderem."

Hilfe für Russland

Für österreichische und andere Inhaber von Illusionen mag Snyders Meinung in Bezug auf den Westen extrem klingen: "Die USA und die EU haben bewiesen, dass es ihnen nicht möglich ist, die Ereignisse in Russland zu beeinflussen. Aber wir können die Ukraine beeinflussen – indem wir ihr helfen, gegen Russland zu obsiegen. Wir sollten Russland helfen, zu verlieren."

Ivan Krastev hingegen entwickelte seine nicht minder ernüchternde These, dass die drei Prinzipien, auf die die europäische Nachkriegsordnung gebaut ist, zerbröckeln: erstens, dass Handel und wirtschaftliche Beziehungen Kriege verhindern. Dies wurde von Putin ad absurdum geführt.

Zweitens, dass militärische Macht überflüssig (geworden) ist und man auf Rüstung vergessen kann. Auch das gilt seit dem Überfall auf die Ukraine nicht mehr.

Drittens, dass es möglich ist, sich von den USA sicherheitspolitisch unabhängig zu machen. Das gilt nur so lange, bis eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung wie Putins Imperialismus auftaucht.

Im vollgepackten IWM analysierten die beiden zunächst die aktuellen Ereignisse: Sowohl Putin wie Prigoschin seien im Grunde Faschisten, sagte Snyder, es handle sich um eine Auseinandersetzung rivalisierender Faschisten. Um die Lage Russlands zu erkennen, müsse man sich vergegenwärtigen, dass die Russen in der Ukraine in einem Jahr zwei Kilometer vorangekommen seien – Prigoschins Truppe aber innerhalb Russlands bis 200 Kilometer vor Moskau. Prigoschin sei allerdings die erste russische Führungsfigur, die die Wahrheit gesagt habe: nämlich, dass Putins Begründung für den Krieg eine Lügengeschichte sei.

Keine Alternativen zu Putin

Signifikant sei die Apathie der Bevölkerung – während es 1991 beim Putschversuch der Altstalinisten gegen Gorbatschow noch zu Großdemonstrationen gekommen sei, war diesmal niemand auf den Straßen. Es gab weder Demos für Putin noch gegen ihn – es zeige sich auch keine Alternative zu ihm.

Wie werde der Krieg enden? "Wenn der Druck innerhalb von Russland zu groß wird", sagt Snyder. Prigoschin sei schon ein Vorbote. Und Krastev ergänzt: "Putin versucht nicht mehr, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen. Er versucht jetzt, einen anderen Krieg zu führen – den gegen den Westen, die Nato. Er glaubt, dass er nur gewinnen kann, wenn Trump über Biden 2024 siegt und dann die Unterstützung für die Ukraine kappt."

Dazu verwies Snyder auf die wichtige Rolle, die Prigoschin beim Sieg Trumps 2016 gespielt hatte. Die von ihm aufgebaute Trollfabrik in St. Petersburg beeinflusste damals auch die USA – zugunsten von Trump. Das sei jetzt noch dramatischer: "Wenn Biden verliert und Trump siegt, dann bricht das amerikanische politische System zusammen."

Krastev rechnet mit wüsten Zuständen, wenn Putin fallen sollte. Der Westen müsse sich im Klaren sein, dass seine Einflussmöglichkeiten begrenzt sind: "Man muss wissen, was man nicht tun kann." (Hans Rauscher, 27.6.2023)

Ivan Krastev ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und ständiger politischer Kommentator in internationalen Medien. Zu seinen Büchern gehören unter anderem "After Europe" und "The Light that Failed". Timothy Snyder ist Professor für Geschichte in Yale und Autor zahlreicher vielbeachteter Bücher ("Bloodlands – Europe between Hitler and Stalin", "On Tyranny", "The road to unfreedom: Russia, Europe, America"). Er hat in letzter Zeit sehr viel über die Geschichte und die Zukunft der Ukraine publiziert. Beide sind Permanent Fellows am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), das sich seit vier Jahrzehnten den geistigen Strömungen und der Politik in Osteuropa widmet.