RAID, Lille
Die schwer bewaffnete französische Spezialpolizei RAID (Recherche, Assistance, Intervention, Dissuasion, auf Deutsch: Suche, Unterstützung, Intervention, Abschreckung) soll am fünften Tag der Proteste in Lille die Demonstrierenden kontrollieren.
REUTERS/PASCAL ROSSIGNOL

Paris – Angesichts der seit vier Tagen anhaltenden Unruhen in Frankreich verschärfen die Behörden ihre Maßnahmen weiter. Örtliche Behörden im gesamten Land untersagten am Samstag Demonstrationen. Innenminister Gerald Darmanin kündigte für Samstagabend erneut den Einsatz von rund 45.000 Sicherheitskräften an. Besonders in Lyon und Marseille würden die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Präsident Emmanuel Macron sagte wegen der Ausschreitungen seinen geplanten Deutschland-Besuch ab.

Ausgelöst wurden die Krawalle durch den Tod eines 17-Jährigen bei einer Polizeikontrolle vor vier Tagen. Seitdem ereigneten sich jede Nacht heftige Krawalle in Paris und anderen Großstädten. Bereits in der Nacht zum Samstag waren 45.000 Polizistinnen und Polizisten im Einsatz - dennoch kam es vielerorts zu Plünderungen, Gewalt und Brandanschlägen. Besonders in Marseille und Lyon spitzte sich die Lage zu. Mehr als 1.300 Menschen wurden im ganzen Land verhaftet.

Mehr Festnahmen als am Vortag

Der 17-Jährige, dessen Familie aus Algerien stammt, wurde am Samstag im engsten Familienkreis in Nanterre bestattet. Laut der Zeitung "Le Figaro" nahmen Hunderte Menschen an den Trauerfeierlichkeiten am Samstag in Nanterre nahe Paris teil. Die Familie hatte sich gewünscht, dass keine Presse an der Trauerfeier und der anschließenden Beisetzung teilnehmen soll.

Nach vorläufigen Zahlen des Innenministeriums wurden bei den neuerlichen Krawallen in der Nacht auf Samstag landesweit 1.350 Fahrzeuge angezündet, 234 Gebäude in Brand gesetzt oder beschädigt und 2.560 Brände auf Straßen gelegt. 79 Polizisten und Gendarmen wurden demnach verletzt.

Laut Finanzminister Bruno Le Maire wurden seit Dienstag mehr als 700 Geschäfte, Supermärkte, Restaurants und Bankfilialen geplündert oder sogar zerstört.

Marseille
Demonstrierende flüchten am Samstag in Marseille vor Tränengas.
AFP/CLEMENT MAHOUDEAU

Besonders heftig waren die Ausschreitungen in Marseille. In Frankreichs zweitgrößter Stadt leben zahlreiche Menschen nordafrikanischer Herkunft. Dort brach laut Polizei "in Verbindung" mit den Ausschreitungen in einem Supermarkt ein Feuer aus. Im Zentrum der südfranzösischen Hafenstadt schleuderten junge und oft vermummte Demonstranten Wurfgeschosse auf Polizeitransporter, die Polizei setzte Tränengas ein. Auch in Paris gingen die Unruhen weiter. Nach Angaben der Behörden handelt es sich bei den Randalierern um mobile, gut vernetzte und oft "sehr junge" Menschen.

Öffentlicher Verkehr ab 21 Uhr großteils eingestellt

Die französischen Behörden hatten ihre Maßnahmen am Freitag nochmals verschärft, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen. 45.000 Polizisten und Gendarmen wurden mobilisiert, etwa 5.000 mehr als in der Nacht zuvor. Zudem wurde ab 21.00 Uhr landesweit der Verkehr von Bussen und Straßenbahnen eingestellt und der Verkauf von Feuerwerk und entflammbaren Flüssigkeiten untersagt. Großveranstaltungen wie Konzerte wurden abgesagt, mehrere Orte verhängten nächtliche Ausgangssperren.

Im Ballungsraum Paris sollte auch am Samstagabend wieder der Verkehr von Bussen und Straßenbahnen ruhen und der abendliche Métro-Betrieb um eine Stunde verkürzt werden. In Marseille sollte der gesamte öffentliche Verkehr ab 18.00 Uhr eingestellt werden. Erneut wurden dort alle Protestkundgebungen untersagt. 

"Gerechtigkeit für Nahel" forderten Demonstrierende in Paris.
IMAGO/Blondet Eliot/ABACA

Marseille: Bürgermeister bat um zusätzliche Sicherheitskräfte

Macron will sich wegen der Krawalle mit Bürgermeistern treffen. Einige Kommunalpolitiker hatten zuvor Ausgangssperren und eine Verstärkung der Polizei gefordert, um der heftigen Krawallen Herr zu werden. Der Präsident müsse wegen der innenpolitischen Situation in den nächsten Tagen in Frankreich bleiben, teilten der Elysee-Palast und das deutsche Bundespräsidialamt am Samstag mit. Macron habe mit dem deutschen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier telefoniert und diesen über die Situation in seinem Land unterrichtet, sagte eine Sprecherin Steinmeiers. "Präsident Macron hat darum gebeten, den geplanten Staatsbesuch in Deutschland zu verschieben."

Der Bürgermeister von Marseille, Benoit Payan, rief die Regierung auf, umgehend zusätzliche Sicherheitskräfte zu schicken. "Die Plünderungs- und Gewaltszenen sind inakzeptabel", schrieb er Freitagnacht auf Twitter. In Lyon, Frankreichs drittgrößter Stadt, setzte die Polizei Schützenpanzerwagen und einen Hubschrauber ein. Auch der dortige Bürgermeister Gregory Doucet forderte Verstärkung. In Paris räumte die Polizei am Freitagabend die Place de la Concorde, den größten Platz der Hauptstadt. Dort hatten sich zahlreiche Menschen zu einer Protestkundgebung versammelt.

Polizeigewalt und Rassismus

Der Gewaltausbruch hat Macron und seine Regierung in die schwerste Krise seit Beginn der Gelbwesten-Proteste im Jahr 2018 gestürzt. Die Verhängung des Notstandes hat Macron bisher nicht angeordnet – ausgeschlossen ist das Darmanin zufolge allerdings nicht.

Viele Menschen aus armen Stadtvierteln, in denen Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft leben, fühlen sich benachteiligt und von der Regierung vernachlässigt. Seit langem häufen sich zudem Beschwerden über Polizeigewalt und Rassismus. Die Krawalle erinnern an die Straßenschlachten im Jahr 2005, die damals drei Wochen lang dauerten. Damals hatten sich in Paris zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatorenhäuschen versteckt und kamen durch Stromschlag ums Leben. Präsident Jacques Chirac verhängte damals den Ausnahmezustand.

Palce de la Concorde Paris
Bereits tagsüber versammelten sich am Freitag Protestierende in Paris am Place de la Concorde.
IMAGO/Telmo Pinto

Videoaufnahmen von der Tötung von Nahel M. wurden in den sozialen Medien verbreitet. Der Polizist hat eingeräumt, den Schuss auf den Jugendlichen abgegeben zu haben, als dieser mit seinem Wagen trotz der Kontrolle weiterfuhr. Sein Anwalt Laurent-Franck Lienard sagte, sein Mandant habe auf das Bein des Fahrers gezielt, sei aber beim Anfahren des Autos angefahren worden, wodurch er in Richtung Brust geschossen habe. "Offensichtlich wollte er den Fahrer nicht töten", sagte Lienard im Fernsehsender BFM. Der Polizist ist in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf Totschlag.

Ein Toter in Französisch-Guayana

In Cayenne, der Hauptstadt des südamerikanischen Französisch-Guayana, wurde in Zusammenhang mit den Unruhen ein Mann in der Nacht zum Freitag (Ortszeit) durch einen Querschläger getötet, wie die örtlichen Behörden mitteilten. Nach Medienberichten handelte es sich bei dem Mann um einen Mitarbeiter der Lokalverwaltung.

Auch im karibischen Überseegebiet Martinique kam es nach einem Bericht des regionalen Portals France-Antilles in der Nacht zum Freitag zu Gewalt. Etwa 20 bis 30 Vermummte warfen demnach in der Hauptstadt Fort-de-France mit Steinen auf Polizisten. An mehreren Orten seien Mülltonnen angezündet worden. (APA, red, 1.7.2023)