Die strengen Regeln für gentechnisch veränderte Pflanzen in Europa wackeln gehörig. Nach jahrelangen Diskussionen legte die Europäische Kommission am Mittwoch einen umfangreichen Änderungsvorschlag für den Umgang mit neuen Gentechnikmethoden in Pflanzenzucht und Landwirtschaft vor.

Hand mit Maiskörner
In Europa gelten sehr strenge Regeln für Pflanzen, die mithilfe neuer gentechnischer Methoden gezüchtet wurden. Das soll sich unter bestimmten Voraussetzungen ändern, wenn es nach der EU-Kommission geht.
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Das Dokument zielt auf deutliche Lockerungen für gentechnisch veränderte Pflanzen ab, wenn bestimmte Kriterien erfüllt werden. Wissenschaftliche Forschungsinstitutionen und Teile der Wirtschaft fordern diesen Schritt schon lange, Kritik an Änderungen gibt es von Umweltschutzorganisationen und der Biobranche, aber auch aus Teilen der österreichischen Politik.

Bei einer Pressekonferenz Mittwochmittag in Brüssel betonte Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, die Notwendigkeit innovativer Technologien für eine nachhaltige Landwirtschaft. Neue gentechnische Methoden könnten dazu beitragen, klima- und schädlingsresistentere Pflanzen zu entwickeln, die weniger Pestizide und Düngemittel benötigen würden. "Unser Vorschlag erfolgt nach einer umfassenden und gründlichen Beratung und basiert auf Wissenschaft", sagte Timmermans. Die Änderung würde ausschließlich Pflanzen betreffen, andere Organismen seien davon nicht betroffen.

In einer ersten Reaktion bezeichneten Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne), Konsumentenschutzminister Johannes Rauch (Grüne) und Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) den Kommissionsvorschlag als "inakzeptabel". "Wir werden das nicht zulassen, uns daher mit aller Kraft in Brüssel dafür einsetzen, dass auch weiterhin strenge Regeln für gentechnisch veränderte Pflanzen und Lebensmittel gelten", heißt es in einer gemeinsamen Aussendung. 

Urteil von 2018 in der Kritik

Worum geht es? In Europa gelten strenge Gesetze für Freisetzung, Verkauf und Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Organismen. Die Richtlinie dazu stammt aus dem Jahr 2001, doch seither ist in der Wissenschaft enorm viel passiert: Neue molekularbiologische Werkzeuge wie die Genschere Crispr, die 2012 erstmals vorgestellt wurde, haben nicht nur die Grundlagenforschung revolutioniert. Sie erlauben auch der Pflanzenzucht weitaus präzisere und schnellere Eingriffe in das Pflanzenerbgut als frühere Gentechnikmethoden oder herkömmliche Zuchttechniken.

Wird eine Pflanze mit Crispr oder anderen "neuen genomischen Techniken" (NGT) genetisch verändert, lässt sich das Ergebnis oftmals nicht von natürlich auftretenden Mutationen unterscheiden. Dennoch urteilte der Europäische Gerichtshof 2018, dass auch solche Pflanzen unter die restriktiven Gentechnikregeln fallen. Das gilt auch dann, wenn keine transgenen Organismen erzeugt wurden, wenn also keine artfremden Gene in die Pflanze eingeschleust wurden. Eine Überprüfung wäre in solchen Fällen de facto aber unmöglich, da sich der Eingriff mittels Genschere nicht nachweisen ließe.

Die Entscheidung von 2018, nicht das Endprodukt zu beurteilen, sondern pauschal die Herstellungsmethode, sorgte für viel Kritik. Namhafte Forschungseinrichtungen, auch aus Österreich, bezeichneten das Urteil als wissenschaftlich nicht haltbar und warnten davor, leichtfertig auf wichtige Werkzeuge für eine nachhaltigere Landwirtschaft in Zeiten des Klimawandels zu verzichten. Auf das Potenzial neuer Gentechnik für eine Anpassung der Landwirtschaft an wachsende ökologische Herausforderungen verweist auch die EU-Kommission in ihrem aktuellen Vorschlag.

Gleichstellung unter Umständen

Geht es nach der Kommission, sollen Pflanzen, die mit neueren Techniken wie Crispr verändert wurde, in Sachen Risikobewertung und Zulassung herkömmlich gezüchteten Pflanzen gleichgestellt werden. Das gilt nicht pauschal: Voraussetzung ist, dass keine artfremden Gene eingefügt wurden und eine bestimmte Anzahl an genetischen Änderungen nicht überschritten wurde. Demgegenüber sollen transgene Pflanzen oder Züchtungen, deren Veränderungen umfangreicher sind, als mit herkömmlicher Züchtung erreichbar wäre, weiterhin strengen Bestimmungen unterliegen. Im Biolandbau soll auch die neue Gentechnik weiterhin generell verboten bleiben.

Die EU-Kommission beruft sich in ihrem Vorschlag auf Untersuchungen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa), laut der NGT-Pflanzen keine größeren Gefahren bergen als konventionell gezüchtete Pflanzen und das Risiko für unbeabsichtigte Folgen unvergleichbar geringer sei als bei Erzeugnissen der "klassischen Gentechnik".

Eigentlich steckt auch in der "herkömmlichen Züchtung" nichts anderes als Gentechnik: Verfahren der sogenannten Mutagenese wie chemische Behandlung oder radioaktive Bestrahlung, die seit vielen Jahrzehnten Standard in der Pflanzenzucht sind, sorgen für mehr Mutationen im Pflanzenerbgut. Diese vergleichsweise brachialen Zuchtmethoden zielen darauf ab, unter vielen zufälligen Mutationen irgendwann auch nützliche Genveränderungen hervorzurufen. Von den strengen Gentechnikrichtlinien sind diese Methoden ausgenommen, wie auch der EuGH 2018 festhielt. Mit diesen Methoden erzeugte Produkte sind in jedem Supermarkt zu finden.

Zwei Kategorien für Gentechnikpflanzen

Konkret sollen gentechnisch veränderte Pflanzen daher künftig in zwei Kategorien unterteilt werden:

  • Gentechnikpflanzen der Kategorie 1: In diese Kategorie sollen gentechnisch erzeugte Pflanzen fallen, die sich nicht von herkömmlichen Züchtungen unterscheiden oder die auch durch natürliche Mutationen hätten entstehen können. Pflanzen der Kategorie 1 sollen von der Gentechnikregulierung ausgenommen werden und damit keinen anderen Auflagen als herkömmlich gezüchtete Pflanzen unterliegen.
    Das bedeutet nicht, dass sie ungeprüft in den Verkehr gelangen können: Auch jede neue Pflanzensorte aus klassischen Zuchtmethoden muss Prüfverfahren durchlaufen. Darüber hinaus würden aber für Kategorie-1-Pflanzen keine weiteren Bestimmungen gelten, daraus hergestellte Lebensmittel müssten nicht speziell gekennzeichnet werden.
    Eine große Ausnahme soll es jedoch im Bereich der Biolandwirtschaft geben: Hier soll der Einsatz von NGT-Pflanzen auf Wunsch der Branche weiterhin generell verboten bleiben. Eine unbeabsichtigte Nutzung im Biosektor soll durch eine öffentliche Datenbank für Kategorie-1-Pflanzen und die Kennzeichnung von NGT-Saatgut vermieden werden.
  • Gentechnikpflanzen der Kategorie 2: Darunter sollen weiterhin transgene Pflanzen und Erzeugnisse aus "klassischer Gentechnik" fallen. Auch Produkte aus der Genschere, die mehr als 20 genetische Veränderungen aufweisen, sollen zu dieser Kategorie zählen. Für sie soll die bisherige Gentechnikrichtlinie gelten, heißt es im Kommissionsvorschlag. Hier soll es jedoch zu Anpassungen der Regulierung kommen, um bei der Risikoabwägung neuer NGT-Pflanzen stärker auf die individuellen Eigenschaften von Pflanzen eingehen zu können. Entwicklungen, die der Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft förderlich sein können, sollen das Zulassungsverfahren einfacher und schneller durchlaufen können.

Kritik aus der Politik

Auch österreichische Politikerinnen und Politiker in Brüssel äußerten sich überwiegend kritisch zum Vorschlag der EU-Kommission. "Der heutige Vorschlag der Kommission bedeutet eine Abschaffung des Vorsorgeprinzips und ist ein Angriff auf die österreichische gentechnikfreie Landwirtschaft", sagte Thomas Waitz, EU-Abgeordneter der Grünen und Co-Vorsitzender der Europäischen Grünen Partei, dem STANDARD. "Die Kommission fordert eine De-facto-Deregulierung neuer Gentechnik. Konsument:innen  werden im Supermarkt nicht mehr zwischen gentechnikfreien Produkten und Produkten mit neuer Gentechnik unterscheiden können. Auch Mitgliedsstaaten sollen nach diesem Vorschlag kein Mitspracherecht über die Zulassung gentechnisch veränderter Organismen auf ihrem Staatsgebiet mehr haben. Besonders für Österreich, dessen gentechnikfreie Bio- und konventionelle Landwirtschaft ein internationaler Exportschlager ist, ist das ein herber Stoß."

Waitz räumt zwar ein, dass neue Methoden der Gentechnik "enormes Potenzial" bieten würden. Bei der "Ausbringung in freier Natur" plädiert er aber dafür, dass "das Vorsorgeprinzip weiterhin angewandt" wird.

Wissenschaftliche Stimmen

Aus der Wissenschaft gab es hingegen zahlreiche positive Reaktionen auf die Pläne der EU-Kommission. "Der Entwurf ist ein Schritt in die richtige Richtung. Mit den neuen Regelungen kann das Potenzial der Forschung in dem Bereich besser ausgeschöpft werden", sagte der Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Heinz Faßmann, in einer ersten Reaktion zum STANDARD. "In Österreich müssen wir nun endlich zu einer faktenbasierten Debatte kommen, so wie es die wissenschaftlichen Institutionen in ihrem offenen Brief gefordert haben. Denn es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass der Verzehr geprüfter geneditierter Pflanzen irgendeinen gesundheitlichen Schaden verursacht. Deshalb halte ich es für ausgesprochen entbehrlich, hier unnötige Ängste zur verbreiten."

Ähnlich äußerte sich auch Nicolaus von Wirén vom deutschen Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben. "Wir begrüßen den Entwurf der Kommission ausdrücklich. Die Kommission hat viele Empfehlungen aus der Wissenschaft aufgenommen, wie sie beispielsweise die Leopoldina (Deutsche Nationale Akademie der Wissenschaften, Anm.) in ihrer Stellungnahme zur Reform des Gentechnikrechts schon 2019 formuliert hat", sagte von Wirén. "Mit diesen Techniken können wir deutlich präziser arbeiten. Und dadurch, dass Rückkreuzungen entfallen, lässt sich der Zeitbedarf für die Züchtung erheblich verkürzen", erläutert der Agrarbiologe. "Das ist wichtig, weil es jetzt vor allem um die schnelle Anpassung der Kulturpflanzen an das sich verändernde Klima und den verringerten Einsatz von Agrochemikalien geht."

Schon im Vorfeld hatten sich zahlreiche weitere Wissenschafterinnen und Wissenschafter positiv zu den Plänen der EU-Kommission geäußert. "Der Reformentwurf ist aus wissenschaftlicher Sicht sehr zu begrüßen", sagte etwa Martin Qaim von der Universität Bonn. "Wie die Kommission selbst festgestellt hat, ist das derzeit geltende Gentechnikgesetz in der EU nicht mehr zeitgemäß. Es ignoriert den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn der vergangenen 20 Jahre und unterbindet jeglichen pflanzenzüchterischen Fortschritt mit neuen genomischen Techniken."

Offener Brief österreichischer Forschender

Auch österreichische Forschungsinstitutionen nahmen vergangene Woche in einem offenen Brief zum Thema Stellung: "Die Wissenschaft tritt dafür ein, Pflanzen nach Editierung ihrer eigenen Gene rechtlich mit den gleichen Verfahren wie bei der konventionellen Züchtung zu beurteilen. Die entstehenden Pflanzen sollen nach ihren Eigenschaften, nicht nach der Methode ihrer Erzeugung geprüft werden", heißt es in dem Brief, den die Präsidenten und Rektorinnen zahlreicher Institutionen unterzeichnet haben, darunter die Akademie der Wissenschaften, der Wissenschaftsfonds, das Institute of Science and Technology Austria und fünf Universitäten.

Mit der Veröffentlichung des Kommissionsvorschlags ist nun das Europäische Parlament am Zug. Wird dort eine Einigung erzielt, beginnen die Verhandlungen mit dem Rat der Mitgliedsländer. (David Rennert, Tanja Traxler, 5.7.2023)