Einst hielt man die seltene, wohlriechende Zutat kostbarer Parfums für ein merkwürdiges Produkt des Meeres, ein Gewächs, das auf dem Meeresgrund sprießt, ab und zu bei Stürmen losgerissen und schließlich an die Küsten gespült wird, wo es einen glücklichen Finder zu großem Reichtum verhalf. In Arabien wiederum kursierte die Vorstellung, rohe Ambra würde sich aus küstennahen Quellen ins Meer ergießen, dort von großen Fischen verschlungen und in Form einer veredelten Variante wieder hervorgewürgt. Entsprechende Schilderungen finden sich auch in der Märchenerzählung "Tausendundeine Nacht" – und das ist von der Wahrheit gar nicht so weit entfernt.

Tatsächlich "wächst" Ambra nämlich im Verdauungstrakt von manchen Pottwalen heran – und in den Eingeweiden eines auf der Kanareninsel La Palma gestrandeten Exemplars dieser Spezies hat Antonio Fernández Mitte Mai einen veritablen Brocken dieser Substanz entdeckt. Der Leiter des Instituts für Tiergesundheit und Lebensmittelsicherheit an der Universität Las Palmas (IUSA) war gemeinsam mit seinem Team ausgerückt, um herauszufinden, woran der 13 Meter lange Wal verendet war.

Obduktion eines Pottwal, Ambra, La Palma
Der Pottwal wurde am 21. Mai an der Küste der kanarischen Insel La Palma angeschwemmt. In seinen Eingeweiden fand Antonio Fernández einen gewaltigen Klumpen Ambra.
Foto: EPA/LUIS G MORERA

Fatale Verdauungsprobleme

Da Fernández ein Verdauungsproblem vermutete, nahm er sich zunächst den Dickdarm des Tieres vor – und er sollte recht behalten: "Was ich dort herausholte, war ein 'Stein' mit einem Durchmesser von etwa 50 bis 60 Zentimetern und einem Gewicht von 9,5 Kilogramm", berichtete der Forscher. "Alle schauten zu, wie ich an den Strand zurückkehrte, aber keiner erkannte zunächst, dass es Ambra war, was ich da in meinen Händen hielt."

Ambra ist eine wachsartige, graunbraune bis schwarze Substanz mit helleren Streifen oder Flecken. Ihre Dichte ist geringer als Wasser, weshalb sie im Meer auch an der Oberfläche treibend gefunden wird. Erfahrungsgemäß bringt nur einer von hundert Pottwalen Ambra hervor. Wie und warum sie im Darm der Meeressäuger entsteht, ist nicht ganz klar. Da immer wieder die Schnäbel von Riesentintenfischen in den Ambraklumpen eingebettet gefunden werden, vermuten Fachleute jedoch, dass die Substanz vom Verdauungstrakt der Wale produziert wird, um die empfindliche Darmwand vor den harten, scharfkantigen Überresten der Beutetiere zu schützen.

Ambraklumpen, La Palma
Mit einem Durchmesser von über einen halben Meter und einem Gewicht von etwa zehn Kilogramm beläuft sich der Wert der Ambra auf rund 500.000 Euro.
Foto: Universidad de Las Palmas de Gran Canaria

Mehrere Hundert Kilogramm

Nach einer anderen Hypothese handelt es sich bei Ambra um die Folge einer Stoffwechselerkrankung des Pottwals. Aber auch als eine Art antibiotischer Wundverschluss bei Verletzungen der Darmwand könnte die Ambra fungieren. Ins Meer gelangt sie letztlich, indem der Wal die Substanz erbricht, am anderen Ende ausscheidet oder nach seinem Tod freisetzt. Meist werden nur kleinere Mengen von bis zu zehn Kilogramm geborgen, es wurden aber auch schon Ambraklumpen von über hundert Kilogramm gefunden. In solchen Fällen dürfte der betroffene Wal jedoch durch die riesigen Brocken einem Darmverschluss erlegen sein.

Ein ähnliches Schicksal hat vermutlich auch den in La Palma angeschwemmten Pottwal ereilt. Wie Fernández nun nach eingehender Untersuchung der Überreste berichtete, löste der Ambraklumpen im Darm des Meeressäugers eine Entzündung aus. Die Kolitis überschwemmte die Blutbahnen des Tieres mit Bakterien, die zu einer Sepsis führten, an der der Pottwal schließlich zugrunde ging.

Süßlich und aphrodisierend

Frische Ambra ist weich, von weißlicher Farbe und riecht nach übereinstimmenden Aussagen widerwärtig. Erst durch den jahrelangen Kontakt mit Luft, Licht und Salzwasser erhält sie ihre feste Konsistenz und ihren charakteristischen Duft. Der ist es auch, der der Ambra ihren enormen Wert verleiht. Als Hauptbestandteile fungieren verschiedene Sterine (also Fette aus Zellmembranen) und der Triterpenalkohol Ambrein. Geruchsbestimmend sind Inhaltsstoffe, die durch Luft und Licht aus dem Ambrein entstehen und nur etwa ein halbes Prozent der Gesamtmasse ausmachen.

Video: Ambra entsteht im Darm von Pottwalen.
Australian Museum

Das Aroma von Ambra wird als intensiv süßlich-holzartig bis tabakähnlich beschrieben, auch eine aphrodisierende Wirkung wird dem Duft zugeschrieben, weshalb sie – mittlerweile großteils in synthetischer Form – als Basisnote in Parfumkompositionen immer noch eine große Rolle spielt. Im Mittelalter fand Ambra auch als Arznei und als Gewürz für Nahrungsmittel und Weine Verwendung. Damals wurde sie buchstäblich mit Gold aufgewogen, und auch heute noch beläuft sich der Wert von natürlicher Ambra je nach Qualität auf mehrere Zehntausend Euro pro Kilogramm.

Geld für Vulkanopfer

Allerdings ist der Handel mit Ambra nach dem Moratorium für den kommerziellen Walfang der Internationalen Walfangkommission von 1982 nicht überall legal. Verboten ist er beispielsweise in den USA, Australien und Indien; in einigen europäischen Ländern dagegen ist der Handel erlaubt. Der aus den Pottwaleingeweiden an der Küste von La Palma geborgene Ambraklumpen wird auf rund eine halbe Million Euro geschätzt, und Fernández' Institut ist aktuell auf der Suche nach einem interessierten Käufer.

Persönlich bereichern wollen sich Fernández und seine Kolleginnen und Kollegen allerdings nicht. Die Forschenden planen, den Erlös den Opfern des Vulkanausbruchs auf La Palma im Jahr 2021 zugutekommen zu lassen. Die Eruption im Bereich der Cumbre Vieja hat vor zwei Jahren hunderte Gebäude zerstört und Schäden in Höhe von mehr als 800 Millionen Euro verursacht. "Das Gesetz ist in jedem Land anders", erklärte Fernández. "In unserem Fall hoffe ich, dass das Geld der Insel La Palma zugutekommen wird." (Thomas Bergmayr, 6.7.2023)