Anomalocaris canadensis, Urzeiträuber, Kambrium
Anomalocaris canadensis stand in seiner Zeit an der Spitze der Nahrungskette. Dennoch gab es Beute, die er wohl nicht überwältigen konnte.
Illustration: Katrina Kenny

In seinem Zeitalter war er ein Gigant: Anomalocaris canadensis lebte vor 530 bis 501 Millionen Jahren und stand als bis zu 60 Zentimeter langes Raubtier ganz oben auf der marinen Nahrungspyramide. Dass die "ungewöhnliche Garnele", so die Übersetzung von Anomalocaris, einen räuberischen Lifestyle pflegte, verraten vor allem ihre beweglichen, nach unten gekrümmten Fortsätze am Kopfende, die sich hervorragend zum Packen von Beute eignen. Zahlreiche Anhängsel an den Seiten der Körpersegmente dürften Anomalocaris zu schneller Jagd durchs offene Wasser befähigt haben. Auch die bis zu drei Zentimeter langen Stielaugen sind Räubermerkmale.

Das Tier glich vermutlich tatsächlich ein wenig einer modernen Garnele, zumindest waren die beiden Arten als Gliederfüßer im selben Tierstamm zu Hause. Die bedeutendste Fundstätte von Fossilien dieser Gattung liegt im Burgess Shale in den kanadischen Rocky Mountains (British Columbia). Lange Zeit wurden die dort seit den 1880er-Jahre entdeckten Anomalocaris-Fossilien dieses Tieres gänzlich falsch beurteilt. Die oft nur in Fragmenten vorhandenen Versteinerungen wurden als Quallen oder Schwämme identifiziert, die Greifer als eigene kleinere Gliederfüßerart betrachtet.

Anomalocaris canadensis, Urzeiträuber, Kambrium
Kopf eines Anomalocaris-canadensis-Exemplars aus dem Burgess-Schiefer. Die Greifer sahen wohl martialischer aus, als sie tatsächlich waren.
Foto: Alison Daley

Die Lösung des Puzzles

Erst in den 1960er-Jahren gelang es dem Cambridge-Forscher Harry B. Whittington und seinem Team das Puzzle richtig zusammenzusetzen. Auf welchem Ast des Gliederfüßerstammbaums der Spitzenprädator des frühen und mittleren Kambriums anzusiedeln ist, bleibt allerdings bis heute unklar. Dank neuerer Untersuchungen wird immerhin das Bild klarer, das man sich vom Räuberleben des Tieres machen kann: Ein Team um Russell Bicknell von der University of New England im australischen Armidale konnte nun von Anomalocaris' Mundwerkzeugen auf dessen wahrscheinlich bevorzugte Nahrung schließen – und die war weich und nicht gepanzert, wie man bisher angenommen hatte.

Anomalocaris canadensis, Urzeiträuber, Kambrium
Das Team um Bicknell untersuchte die Fangbeine des Urzeiträubers. Für die Jagd auf Trilobiten waren sie offenbar nicht geeignet.
Foto: Alison Daley

Grundlage früherer Vermutungen, Anomalocaris canadensis sei ein Panzerknacker gewesen, waren Fossilien von verletzten und zerbrochenen Trilobiten-Panzern, die man für ein Werk des Räubers hielt. "Aber irgendetwas passte daran nicht. Trilobiten haben ein sehr hartes Exoskelett, das im Wesentlichen aus Kalk bestand, während Anomalocaris deutlich weicher gewesen sein dürfte", sagte Bicknell. Bereits frühere Analysen der ringförmigen Mundwerkzeugen von A. canadensis ließen Zweifel an der Fähigkeit des Tieres aufkommen, harte Beute zu bewältigen.

Greifer für Softes

Deshalb nahm sich die Gruppe um Bicknell nun noch einmal die langen, stacheligen vorderen Gliedmaßen des Raubtiers vor. Waren diese für ein Ringen mit den robusten krabbenähnlichen Trilobiten überhaupt geeignet? Um das herauszufinden, erstellten die Forschenden auf Grundlage gut erhaltener Fossilien eine 3D-Rekonstruktion von A. canadensis. Als biomechanische Vergleichsarten dienten moderne Geißelskorpione und Geißelspinnen. Mithilfe spezieller Modellierungsmethoden wurden schließlich auch die Spannungs- und Belastungspunkte der Greiforgane identifiziert.

Die im Fachjournal "Proceedings of the Royal Society B" präsentierte Arbeit untermauert, dass die segmentierten Gliedmaßen von Anomalocaris durchaus in der Lage waren, Beute zu greifen, buchstäblich harten Gegnern wie Trilobiten konnten diese Greifer dagegen nichts anhaben. Der räuberische Riese hielt sich daher wohl eher an weiche, ungepanzerte Beutetiere. Diesen näherten sie sich freilich mit rasanter Geschwindigkeit: Das Team setzte sein 3D-Modell des Raubtiers auch einer virtuellen Strömung aus, um herauszufinden, welche Körperposition es beim Schwimmen wahrscheinlich eingenommen hat.

Buffet mit Einschränkungen

Aus den Berechnungen auf Basis numerischer Strömungsmechanik schlossen die Forschenden, dass der kambrische Räuber ein schneller Schwimmer war, der mit ausgestreckten Fangarmen auf seine Opfer zuschoss. "Frühere Vorstellungen gingen davon aus, dass diese Tiere die im Burgess Shale konservierte Fauna wie ein Buffet betrachtet hatten, von dem man sich nehmen kann, was man will. Allmählich wird klar, dass die Dynamik der kambrischen Nahrungsnetze wahrscheinlich viel komplexer war, als wir einst dachten", sagte Bicknell. (Thomas Bergmayr, 6.7.2023)