2008 stieß eine Gruppe von Archäologinnen und Archäologen im spanischen Valencina bei Sevilla auf ein außergewöhnliches, annähernd 6.000 Jahre altes Einzelgrab. Die beigesetzte Person muss in der damaligen kupferzeitlichen Gesellschaft einen besonders hohen Rang eingenommen haben, daran hatten die Forschenden nach Untersuchung der Grabbeigaben keinerlei Zweifel.

Man musste es hier wohl mit den Überresten eines 17 bis 25 Jahre alten Mannes zu tun haben, wahrscheinlich des Anführers einer größeren Bevölkerungsgruppe, vermuteten die Fachleute nach anthropologischen Standardanalysen – doch damit lag man zumindest in einem Punkt weit daneben: Der vermeintliche "Elfenbeinmann" entpuppte sich nun als Frau, was offenbar damals und in dieser Region Europas durchaus System zu haben schien. Grundlage dieser überraschenden Erkenntnisse sind Zahnschmelzanalysen, die österreichische und spanische Forscher durchgeführt haben und über die sie nun im Fachjournal "Scientific Reports" berichten.

Kupferzeitliche Anführerin, Spanien, Elfenbeinfrau, Ivory Lady
Die Frau in dem kupferzeitlichen Grab war eine führende Persönlichkeit der damaligen iberischen Gesellschaft. Vielleicht war sie eine Elfenbeinhändlerin oder eine hochrangige Priesterin.
Illustration: Miriam Luciañez Triviño

Ungewöhnliche Luxusausstattung

In der kleinen Gemeinde Valencina nordwestlich von Sevilla wird seit Jahren eine große, 450 Hektar umfassende reichhaltige kupferzeitliche Ausgrabungsstätte mit mehreren aus großen Steinblöcken errichteten Gräbern mit steinernen Deckplatten erforscht. Der Inhalt der üppigsten Beisetzung offenbarte einen für die Verhältnisse zwischen 2.900 und 2.650 vor unserer Zeitrechnung geradezu ausufernden Luxus: Ein großer Keramikteller mit Spuren von Wein und Cannabis, Bernstein aus dem Norden, Straußeneier, Gegenstände aus Feuerstein, bearbeitetes Elfenbein und sogar ein ganzer Elefantenstoßzahn aus dem fernen Afrika wurden dem verstorbenen Menschen mit ins Grab gegeben.

Außerdem zeigten Strontium-Untersuchungen, dass die Person aus der Gegend kam. Die Knochen wiesen auffallend hohe Quecksilberwerte auf, was auf intensiven Kontakt mit Zinnober hindeutet, einen Farbstoff, der damals häufig verwendet wurde. Sogar noch zwei oder drei Generationen später wurden der bestatteten Person Opfer dargebracht: Auf das Grab wurden Schieferplatten und darüber Keramikplatten gelegt, auf die man weitere Objekte platziert hatte. Besonders auffällig und wertvoll war ein Dolch mit einer Klinge aus Bergkristall und einem reich mit Perlmutt verzierten Griff aus Elfenbein.

Diese versammelten Schätze lassen gar vermuten, dass es sich bei dem jungen Menschen "um das sozial prominenteste Individuum" der Kupferzeit auf der Iberischen Halbinsel gehandelt hat, meinen die Forscherinnen und Forscher um Marta Cintas-Peña von der Universität Sevilla und Katharina Rebay-Salisbury vom Österreichischen Archäologischen Institut (ÖAI) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien.

Kupferzeitliche Anführerin, Spanien, Elfenbeinfrau, Ivory Lady
In der unteren Schicht des Grabes befanden sich neben dem bestatteten Körper zahlreiche Grabbeigaben, darunter ein Elefantenstoßzahn und ein Dolch aus Feuerstein. Die Grabbeigaben waren um die Verstorbene herum angeordnet.
Illustration: Miriam Luciañez Triviño

Beigaben aus nah und fern

"Aufgrund der spektakulären, von weit her stammenden Beigaben ging man bisher davon aus, dass es sich um einen Mann gehandelt hat", erklärte Rebay-Salisbury. In ersten Publikationen zu dem Fund sei immer von einem "Elfenbeinhändler" die Rede gewesen. Übliche Analysen zum Geschlecht, etwa anhand der Becken- oder Kopfform, sind jedoch gerade in den kupfer- und bronzezeitlichen Gesellschaften nicht so einfach, weil die Geschlechtsunterschiede damals nicht so groß waren wie heute.

Zudem erschweren die klimatischen Bedingungen im Mittelmeerraum etwaige DNA-Analysen, die prähistorischen Knochen von spanischen Bestattungsplätzen sind häufig in einem schlechten Erhaltungszustand. Das Team konzentrierte seine Untersuchungen daher auf den Zahnschmelz, der eine wichtige Informationsquelle zum Geschlecht enthält. "Das Gen Amelogenin ist für die Ausbildung von Zahnschmelz verantwortlich und kommt in geschlechterspezifischen Varianten vor", erklärte Rebay-Salisbury.

Entsprechend unterscheiden sich bei Mann und Frau auch die nach den Bauplänen dieses Gens aus Aminosäuren hergestellten Moleküle, die im Zahnschmelz eingebaut werden. Diese Unterschiede sind auch nach Tausenden von Jahren noch im Zahnschmelz erkennbar. Die entscheidenden Erkenntnisse lieferte schließlich die Analyse eines Backen- und eines Schneidezahns: Das Individuum war keineswegs männlich, sondern in Wahrheit eine Frau. "Die ranghöchste Person in der iberischen Gesellschaft der Kupferzeit war also eine Frau, der 'Ivory Man' entpuppte sich als 'Ivory Lady'", sagte Rebay-Salisbury.

Kupferzeitliche Anführerin, Spanien, Elfenbeinfrau, Ivory Lady
In der darüberliegenden, jüngeren Schicht des Grabes befanden sich Artefakte wie ein Dolch mit Bergkristallklinge, ein Straußenei und ein weiteres reich verziertes Objekt aus Elfenbein.
Illustration: Miriam Luciañez Triviño

Durch Leistung an die Spitze

Ein interessantes Detail ergab auch der Vergleich mit den Kinderbestattungen an der Fundstätte von Valencia. Da diese durchwegs keinerlei Grabbeigaben enthielten und ihr gesellschaftlicher Rang in einem so frühen Lebensabschnitt offenbar noch nicht kenntlich gemacht wurde, haben die Menschen der Kupferzeit ihren soziale Status vielleicht nicht durch Geburt zugewiesen bekommen, spekulieren die Forschenden. Es könnte also sein, dass die "Elfenbeinfrau" "eine herausragende soziale Stellung durch Verdienst und persönliche Leistung erlangt und sie nicht ererbt hat", erklärte das Team.

Die entdeckten Substanzen wie Zinnober, Wein und Cannabis weisen zudem nicht unbedingt ausschließlich auf weltliche Praktiken hin – womöglich war die "Ivory Lady" eine Art Priesterin, so Rebay-Salisbury. Jedenfalls verdeutlicht der Fund, welchen hohen Rang Frauen zu einer Zeit haben konnten, in der kein Mann – zumindest nach bisherigen archäologischen Befunden – eine ähnliche soziale Stellung einnahm.

Neubewertung

Nur andere Frauen, die zwei bis drei Generationen später in rund 100 Meter Entfernung von der "Elfenbeinfrau" im Dolmen von Montelirio bestattet wurden, scheinen aufgrund ihrer Beigaben eine ähnlich hohe soziale Position gehabt zu haben. Von den 25 dort begrabenen Personen waren laut Knochenanalysen mindesten 15 Frauen, überwiegend im Alter zwischen 20 und 35 Jahren. Einige dieser Frauen wurden in Gewändern bestattet, die aus tausenden durchlöcherten Perlen gefertigt waren. So wie die "Elfenbeinfrau" wiesen auch sie außerordentlich hohe Quecksilberwerte in den Knochen auf.

Insgesamt rüttelt die Neubewertung der "Ivory Lady" an gewohnten und nicht selten voreiligen Interpretationen der Vergangenheit: "Häufig dominieren Bilder, wonach in der frühesten Epoche der Menschheitsgeschichte sämtliche Führungspositionen von Männern besetzt gewesen seien. Mit diesem Fund werden viele unserer Geschlechterstereotype über Bord geworfen", sagte die Archäologin. (tberg, red, 6.7.2023)