Die seit 2000 dauerhaft bewohnte Internationale Raumstation ist sichtlich in die Jahre gekommen und wird voraussichtlich noch in diesem Jahrzehnt ihren Betrieb einstellen. Ein Ende der astronautischen Raumfahrt ist aber nicht in Sicht, ganz im Gegenteil: Die wachsende Konkurrenz ambitionierter Nationen und privater Player sorgt für einen neuen Wettlauf ins All.

Auch die Europäische Weltraumorganisation (Esa) will künftig stärker auf Astronautinnen und Astronauten setzen. Im Vorjahr wurde die neue Generation der Weltraumreisenden aus Europa vorgestellt. Unter den insgesamt 17 Karriere- und Reserveastronauten in Ausbildung, zu denen auch die Österreicherin Carmen Possnig zählt, gibt es eine Premiere: Mit dem Briten John McFall wurde zum ersten Mal ein Mensch mit einer körperlichen Behinderung in das Astronautenprogramm aufgenommen.

John McFall Astronaut Esa
Wissenschaft und Sport hätten ihn schon immer begeistert, sagt John McFall. Jetzt will er ins Weltall fliegen.
REUTERS/Benoit Tessier

Der 42-jährige McFall, dem im Alter von 19 Jahren nach einem Motorradunfall das rechte Bein amputiert werden musste, nimmt an einer Machbarkeitsstudie der Esa teil. Ziel ist es zu erforschen, welche technischen und medizinischen Hürden überwunden werden müssen, um Menschen mit einer Behinderung ins All zu fliegen. Mit dem STANDARD sprach der ausgebildete Mediziner und preisgekrönte Leichtathlet McFall kürzlich in Wien über seine Hoffnungen in die Raumfahrt, sein medizinisches Interesse daran und seine Vergangenheit als Spitzensportler.

STANDARD: Sie blicken auf eine erfolgreiche Karriere im Sport zurück und arbeiten als orthopädischer Chirurg. Was hat Sie dazu motiviert, sich auch als Astronaut zu bewerben?

John McFall: Viele Leute sagen, sie hätten schon als Kind davon geträumt, ins All zu fliegen. Auf mich trifft das ehrlich gesagt nicht zu, ich hatte nicht den Plan, Astronaut zu werden. Aber ich habe Wissenschaft schon immer geliebt. Die Gelegenheit, mich für das Esa-Astronautenprogramm zu bewerben, hat sich einfach ergeben – wie so vieles in meinem Leben. Ich habe die Ausschreibung gesehen und mir gedacht, das könnte etwas für mich sein. Der Mut der Europäischen Weltraumorganisation hat mich motiviert, es zu versuchen.

STANDARD: Welchen Mut meinen Sie?

McFall: Die Esa will herausfinden, ob man eine Person mit einer körperlichen Behinderung ins All schicken kann, um dort zu leben und zu arbeiten. Das wurde noch nie zuvor versucht, und ich finde, das ist wirklich eine starke Botschaft an die Menschheit: Der Weltraum soll für alle offen sein. Das finde ich großartig und auch persönlich motivierend. Wenn ich dazu einen Beitrag leisten kann, freut mich das sehr.

STANDARD: Sie wurden im Vorjahr unter vielen Bewerberinnen und Bewerbern für das Astronautenprogramm ausgewählt. Wie geht es jetzt weiter?

McFall: Derzeit wird eine Machbarkeitsstudie durchgeführt. Ausgehend von "normalen" Anforderungen an Astronauten geht es darum, genau zu untersuchen, wie sich die Anforderungen und Bedingungen durch unterschiedliche Behinderungen beim Flug und Aufenthalt im All ändern. Daran wird schon länger geforscht, durch meine Auswahl beginnt jetzt die nächste Phase, wo es konkret um meine Situation geht. Wir sind gerade dabei, alle Basisdaten zu sammeln und zu analysieren, wo es Probleme geben könnte. Und dann geht es natürlich darum zu schauen, welche Anpassungen nötig wären, um diese Probleme zu lösen.

STANDARD: Bis wann ist mit Ergebnissen zu rechnen?

McFall: Voraussichtlich Ende 2025 sollen die Ergebnisse dieser Studie vorliegen. Dann wird die Frage sein, wie es weitergeht. Wir hoffen natürlich, dass es keine zu großen Hindernisse gibt und wir grünes Licht bekommen weiterzumachen.

STANDARD: Der menschliche Körper ist nicht für das Leben im Weltraum gemacht, "normal" ist an Menschen im All physiologisch gesehen eigentlich nichts. Ist eine körperliche Behinderung überhaupt ein Nachteil für Astronautinnen und Astronauten?

McFall: Der britische Astronaut Tim Peake hat einmal gesagt, im Weltraum ist jeder behindert. Alle Astronautinnen und Astronauten müssen erst einmal lernen, mit den Bedingungen im All klarzukommen. Aber natürlich ist es so, dass ein Raumflug enorm viel Vorbereitung braucht, physisch, technisch, praktisch. Da geht es zunächst um generelle Sicherheitsvorkehrungen: Ist der Notausstieg der Raumkapsel für alle benutzbar? Was ist bei einer Notlandung im Wasser, in einer abgelegenen Region? Und dann stellen sich auch beim Leben im All viele Fragen. Wie wirkt sich die Schwerelosigkeit zum Beispiel auf mein hydraulisches Knie aus?

STANDARD: Astronautinnen und Astronauten müssen ja ständig trainieren, um den Folgen der Schwerelosigkeit entgegenzuwirken. Könnte es da zu Problemen kommen?

McFall: Das muss man sich genau ansehen. Kann ich das Laufband und andere Trainingsgeräte auf der Internationalen Raumstation problemlos nutzen? Niemand mit einer körperlichen Behinderung hat das bisher ausprobiert. Auf der Erde laufe ich ohne Probleme, aber das ist eine andere Situation. Eine weitere Frage ist auch, was passiert, wenn ich im All meine Prothese abnehme: Wird es zu einer Schwellung kommen? Und, wenn ja, werde ich die Prothese dennoch wieder anlegen und weitertragen können, ohne Schmerzen zu haben? Darauf haben wir noch keine Antworten. Um die zu bekommen, mache ich das alles.

STANDARD: Auf der Erde laufen Sie nicht nur ohne Probleme, Sie wurden als Spitzensportler vielfach ausgezeichnet. 2008 holten Sie die Bronzemedaille im 100-Meter-Lauf bei den Sommer-Paralympics in Peking. War Spitzensport schon vor dem Unfall Ihr Ziel?

McFall: Sport hatte immer einen großen Platz in meinem Leben. Es war enorm wichtig für mich, nach dem Unfall wieder laufen zu lernen. Ich wollte ursprünglich zum Militär gehen, das war nach der Amputation aber ausgeschlossen. Also habe ich Sportphysiologie studiert und als Athlet trainiert und hatte das Glück, es bis zu den Paralympics zu schaffen. Irgendwann habe ich mir gedacht: Spitzensport kann ich nicht für immer machen, ich brauche auch einen anderen Job.

STANDARD: Die Entscheidung fiel auf Medizin.

McFall: Die Vorstellung, noch viel mehr über den Körper zu lernen und zu verstehen, wie alles funktioniert, fand ich wahnsinnig spannend. Also bin ich mit Ende 20 noch einmal zurück an die Universität gegangen und habe Medizin studiert. Ich habe mich auf orthopädische Chirurgie spezialisiert und bin jetzt Assistenzarzt am Ende meiner Ausbildung.

STANDARD: Wie interessant ist die Raumfahrt aus medizinischer Sicht?

McFall: Für die Medizin ist das ein sehr spannendes Feld. In der Schwerelosigkeit treten bei jüngeren Menschen viele körperliche Probleme auf, die sonst erst mit dem Alter kommen. Zum Beispiel nimmt die Knochendichte ab. Ich arbeite in der Orthopädie und sehe oft Knochenbrüche durch diese Veränderungen bei älteren Menschen. Mit den Daten von Astronautinnen und Astronauten untersucht die Weltraummedizin etwa, welche Gene und zellulären Prozesse dabei eine Rolle spielen könnten und wie sich vielleicht gegensteuern ließe. So nützt die Weltraummedizin auch Menschen auf der Erde.

STANDARD: Einen Arzt auf einer Raumstation zu haben ist auch sonst kein Nachteil.

McFall: Das kann manchmal sicher ganz nützlich sein. (lacht) Aber nicht nur in medizinischer Hinsicht: Als Chirurg muss man absolute Ruhe bewahren können und unter Stress stabil bleiben, das ist für Astronauten auch eine wichtige Eigenschaft. Ich würde von mir sagen, ich bin ein sehr rationaler Mensch, mich regt so schnell nichts auf. Man könnte wahrscheinlich auch sagen, ich bin ziemlich langweilig.

STANDARD: Ihr Leben klingt jedenfalls nicht gerade langweilig. Was sagt eigentlich Ihre Familie dazu, dass Sie die Erde verlassen wollen?

McFall: Meine Frau und meine drei Kinder unterstützen mich sehr. Die Kinder finden das alles sehr aufregend, und mir ist es auch wichtig, ihnen zu zeigen, was alles möglich ist. Ich hoffe, sie und auch andere Menschen für Wissenschaft begeistern zu können. Die Raumfahrt spielt da meiner Meinung nach eine ganz wichtige Rolle: Der Weltraum fasziniert Menschen einfach, und sobald wir über den Weltraum reden, reden wir auch über Wissenschaft. Das kann für junge Leute eine fantastische Inspirationsquelle sein.

STANDARD: Dass Sie vielleicht einmal als erster Para-Astronaut ins All fliegen könnten, dürfte auch viele Menschen inspirieren.

McFall: Deshalb finde ich auch den Schritt der Esa so großartig, zu sagen: Wir wollen es schaffen, den Kreis der Personen, die für die Raumfahrt infrage kommen, zu erweitern. Ich hoffe sehr, dass meine Geschichte dazu beiträgt, Menschen Mut zu machen und sie zu motivieren, etwas Neues zu wagen – mit oder ohne Behinderung. (David Rennert, 8.7.2023)