Philosophie Redecker Klimawandel Freiheit
Eva von Redecker (41) versucht, die Idee des Fortschritts in eine Strategie der Nachhaltigkeit zu übersetzen: Schuld hat das kollabierende Klima.
S. Fischer Verlag/ Sophie Brand

Wer sich frei wähnt, der stapft in Siebenmeilenstiefeln los, um Land zu gewinnen. Seit eh und je drängten Fortschrittsapostel aller Couleurs voll Tatendrang hinaus ins Freie. Umgekehrt meint jeder, der sich eingeschränkt glaubt, er werde an der Bewegung gehindert. Damit ist vorerst Schluss. Das Ideal der "Lokomotion", verstanden als Recht auf ungehinderte, allseitige Bewegung, scheint passé. Unter dem Eindruck der Umweltzerstörung geht eine ehrwürdige Denktradition langsam, aber scheinbar unwiederbringlich flöten.

Vorbei soll sie sein, die Zeit, als man das Versprechen, frei zu sein, kurzerhand in die räumliche Horizontale verlegt hat. Philosophin Eva von Redecker, Verfechterin einer neu gedachten "Bleibefreiheit", konstatiert die Einbußen, die mit der Zerstörung der Natur einhergehen. Sie plädiert – am Feminismus Judith Butlers ebenso geschult wie an den Vorgaben der Moralphilosophie – für eine Neufassung des Zeitbegriffs.

Wir alle müssen, notabene in sorgsamer Abstimmung mit den Zyklen der Natur, "uns selbst Zeit geben". "Bleiben" und ausharren lässt sich nur dort, wo sich Mensch und Umwelt, indem sie einander die dringend benötigten Nährstoffe zuführen, aneinander erquicken. Die Denkerin verficht ein Modell von umeinander kreisenden Gezeiten, die, in unablässiger Regeneration begriffen, einander zuarbeiten.

Hoch auf den Mars

In ihrem neuen Großessay schenkt Redecker ausgerechnet den Rauchschwalben besonderes Augenmerk. An der zyklischen Wiederkunft der Zugvögel – sie bauen ihre Nester bekanntlich im Dunstkreis von uns Menschen – richtet sie ein widerspruchsvolles Modell philosophischer Nachhaltigkeit aus. Wer auch künftig frei sein möchte, wird keine Ansprüche zu Lasten anderer stellen. Uneingeschränkt frei dünken sich vielleicht Kolonisatoren des Mars. Doch letzteren muss man sich als unwirtlichen, öden Ort vorstellen: akut abträglich jeder Form von Vergemeinschaftung.

Alleinsein ist auch keine Lösung. Hinzu kommt, als unüberwindliche Schranke, der Skandal der Zeitlichkeit. Die Bannung des Todes durch möglichst heitere Hinnahme seiner Unvermeidlichkeit geht auf Platon zurück, verkörpert durch den todgeweihten Sokrates in Phaidon. Sie gipfelt in allen Versuchen, "Longtermism" zu leben: Gehirn-Simulationen hochzuladen, um den Eindruck computergestützter Ewigkeit zu simulieren.

Redecker möchte schädlichen Besitzindividualismus aus der liberal-rechtlichen Welt verbannt wissen. Ausbeutung ist verpönt, sie stempelt ihre Profiteure zu Knechten quantitativen Wachstums. Die Philosophin, selbst Tochter von Biobauern aus Schleswig-Holstein, hat über Versuche, die Welt umzustülpen, wiederholt nachgedacht – und dabei allerlei neuartige Protestformen ins Spiel gebracht (Revolution für das Leben, 2020).

Die Übersetzung von Freiheit in üppig bemessene Zeit ist aller Ehren wert. Gewonnene "Bleibefreiheit" soll uns Menschen frommen. Sie hilft zugleich dem geschundenen Planeten, die ihm von uns zugefügten Wunden zu schließen. Redecker erwägt vielerlei Wege, wie man Zeit – gemeint als Ressource, die verschwindet – am wirkungsvollsten zurückgewinnt. Zeit wäre sohin das Wasser, das die Mühle des Fortschritts am Klappern hält. Das Rad ist das sicherste Unterpfand der Wiederkehr.

Konzept der "Gebürtlichkeit"

Die Autorin hat in alle Richtungen geforscht. Hannah Arendts Konzept der "Natalität", der Chance auf Wiedergeburt und Neubeginn, kommt in ihrer Erweckungsschrift ebenso zum Zug wie die Bejahung weiblicher Autorität. Gemeint ist die "Neubesetzung" des mütterlichen Ursprungsortes: die Einsetzung einer neuen Zeitform, genährt am Busen des "Sich-Anvertrauens". Man sieht, wer auf die Welt gekommen ist, um zu bleiben, darf sich vor keinem Kitsch fürchten.

Man wird sich der Dringlichkeit von Eva von Redeckers Überlegungen nicht verschließen wollen. Bewahren tut not. Jede Bemühung um die Aussetzung des drohenden "Gezeitenkollapses" verdient mehr als nur Kenntnisnahme. Die Verschleuderung der Welt, die Veruntreuung ihrer Ressourcen, bewirkt eine rapide Abnahme an Bleibekräften. Doch letztlich verengt sich Denken, das fortwill, um dazubleiben, auf die alleinige Auslegung des Fünf-nach-Zwölf-Prinzips. Ihm zufolge geht Zeit vornehmlich diejenigen an, die keine mehr haben.

Schon die französischen Julirevolutionäre von anno 1830 schossen auf die Pariser Turmuhren, um "das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen" (Walter Benjamin). Es scheint ein uralter Traum der Philosophinnen, wieder bei null anfangen zu dürfen. Doch wessen Haus in Flammen steht, wird nicht unbedingt als erstes den Uhrmacher konsultieren. (Ronald Pohl, 8.7.2023)