Jürgen Gottschlich aus Istanbul

Der Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Istanbul endete am späten Freitagabend mit einem Paukenschlag. Zur Überraschung des anwesenden Publikums und politischer Beobachter weltweit erklärte der türkische Präsident Recep Tayyp Erdoğan auf der abschließenden Pressekonferenz, seiner Meinung nach habe es die "Ukraine ganz klar verdient, nach dem Krieg Nato-Mitglied zu werden". Er erwarte allerdings auch, dass diese sich kurzfristig wieder zu Friedensverhandlungen mit Russland bereiterklärt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan überraschte am Freitag auch seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj.
AFP/OZAN KOSE

Die Ankündigung überraschte umso mehr, als Erdoğan einen Beitritt Schwedens zur Nato nach wie vor blockiert. Um beim Schweden-Beitritt weiterzukommen, soll am Montag – also noch vor Beginn des Nato-Gipfels am Dienstag – ein Spitzengespräch zwischen Erdoğan und dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson stattfinden.

Selenskyj, dessen wichtigstes Anliegen beim Gipfel in Litauen eine Einladung zur Nato-Mitgliedschaft ist, strahlte über beide Ohren. Gerade von Erdoğan war eine solche Stellungnahme nicht erwartet worden, gilt er doch innerhalb der Nato gemeinsam mit dem ungarischen Premier Viktor Orbán als großer Putin-Versteher.

Streit um Gefangene

Während der Kreml sich zu Erdoğans Aussagen über den Nato-Beitritt der Ukraine bedeckt hielt, war die Empörung über einen weiteren Zug Erdoğans groß: Als Trophäe sicherte er Selenskyj die Überstellung dreier Kommandanten des Asow-Regiments aus Mariupol zu, die vorerst eigentlich in der Türkei hätten bleiben müssen.

Bei einem früheren Gefangenenaustausch, den Erdoğan mitvermittelt hatte, war von Russland auch eine Reihe Gefangener des Asow-Regiments ausgetauscht worden – unter der Auflage, dass diese bis zum Ende des Kriegs in türkischem Gewahrsam bleiben. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sprach nun vom Bruch einer Vereinbarung und spekulierte, Erdoğan sei im Vorfeld des Gipfels von den Nato-Partnern unter Druck gesetzt worden.

Getreideabkommen läuft aus

Der eigentliche Hauptpunkt der Gespräche zwischen Erdoğan und Selenskyj sollte aber die Verlängerung des so genannten Getreideabkommens sein, auf dessen Grundlage Schiffe auf einer festgelegten Linie im Schwarzen Meer Getreide und andere Agrarprodukte aus ukrainischen Häfen ausführen dürfen, ohne von russischen Kriegsschiffen angegriffen oder aufgehalten zu werden.

Stattdessen werden die Schiffe dann während ihrer Durchfahrt durch den Bosporus von Vertretern der Vereinten Nationen, der türkischen Marine und ukrainischen und russischen Militärs überprüft, um sicher zu gehen, dass sie nur Agrarprodukte geladen haben. Das Abkommen läuft am 17. Juli aus und Erdoğan setzt sich gemeinsam mit der UN dafür ein, dass es verlängert wird.

Dazu soll in Kürze auch ein Treffen Erdoğans mit dem russischen Präsidenten Putin stattfinden. Moskau droht seit Wochen damit, dass Abkommen nicht zu verlängern, weil die Zusagen gegenüber Russland in dem Abkommen nicht eingehalten worden seien. Dabei geht es darum, dass russische Getreide – aber auch Düngemittel-Lieferungen nach wie vor durch die westlichen Sanktionen stark behindert werden, obwohl die Uno zugesagt hatte, sich dafür einzusetzen, dass diese Transporte von den Sanktionen nicht tangiert werden sollen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 9.7.2023)