Indigene brasilianische Protestierende in traditioneller Kleidung und Bemalung.
Indigene Gruppen protestieren in Brasilien gegen Umweltzerstörung durch den Bergbau.
AP

Das Grundargument von Degrowth ist bestechend einfach: Auf einem endlichen Planeten ist kein unendliches Wachstum möglich. Beruht das Wirtschaftssystem auf Wachstum, damit einhergehenden Emissionen und Ressourcenverbrauch, muss es reformiert werden und vom Wachstum wegkommen. Doch ist solch eine Reform überhaupt realistisch?

Joan Martínez-Alier, emeritierter Professor für Ökonomie der Uni Barcelona, legt sein Augenmerk auf die materiellen Grundlagen der Wirtschaft und auf Menschen, die an den Orten leben, wo sich Kapitalinteressen in die Umwelt fressen. Auf Einladung des Instituts für Höhere Studien (IHS) und der Universität Wien gastierte der Wissenschafter, der für seine Forschungen heuer den Holberg-Preis erhielt, in Wien.

STANDARD: Wirtschaftswachstum ist weitestgehend positiv besetzt, Sie stehen ihm kritisch gegenüber. Wieso?

Martínez-Alier: In den vergangenen 200 Jahren ging Wirtschaftswachstum mit einer Verbrauchszunahme von Kohle, Öl und Gas einher. Doch dadurch steigen die Treibhausgasemissionen, was unser Klima verändert. Darüber hinaus kennen wir heute die Materialströme sehr gut, die in die Wirtschaft fließen, also etwa fossile Brennstoffe oder Metalle, aber auch Biomasse wie Holz und Tierfutter, bis hin zu Sand für die Zementherstellung. Je mehr eine Wirtschaft wächst, desto größere Mengen dieser Rohstoffe werden benötigt – mit Auswirkungen auf die Umwelt, auf globaler und regionaler Ebene.

STANDARD: Sie haben weltweit Umweltschäden dokumentiert, insbesondere in Ländern des Globalen Südens, wo Rohstoffe extrahiert werden. Was bedeutet eine wachsende Wirtschaft konkret für die Menschen dort?

Martínez-Alier: Was wir Wirtschaftswachstum nennen, heißt für die lokale Bevölkerung, dass ihnen ihr Land, ihr Wasser, ja oft sogar ihre saubere Luft entzogen werden. In der Folge kommt es zu Konflikten in solchen Regionen, die ich die "Fronten der Extraktion" nenne. Es gibt auch "Fronten der Abfallentsorgung": Die Menschen protestieren an Orten, die etwa für die Lagerung von Atommüll vorgesehen sind. Wir sehen insgesamt, wie sich auf allen Ebenen der extraktiven Wirtschaft Widerstand regt.

Zerstörter Urwald in Chile
In Chile vernichtet der illegale Abbau von Rohstoffen ganze Landstriche.
APA/AFP/Antioquia Government/-

STANDARD: Die von Ihnen mitbegründete Website "Atlas der Umweltgerechtigkeit" sammelt rund um den Globus tausende solcher Konfliktherde. Was ist das Ziel dieses Projekts?

Martínez-Alier: Zunächst geht es darum, diese Konflikte sichtbar zu machen und die Protestierenden so zu unterstützen. Davon abgesehen besteht ein wissenschaftliches Interesse, die wachsende globale Umweltbewegung abzubilden: Wie die Arbeiterbewegung als Reaktion auf die soziale Frage entstand oder die feministische Bewegung aus der Frauenfrage, beobachten wir jetzt, wie eine große Bewegung eine neue Art von Gesellschaftsfrage beantwortet, die wir die sozial-ökologische Frage nennen.

STANDARD: Diese Frage wird in Ländern, die von der momentanen Wirtschaftsordnung profitieren, kaum gestellt. Wenn die Fronten der Extraktion weit weg sind, wieso sollten wir etwa auf Wachstum verzichten?

Martínez-Alier: Wirtschaftswachstum hat zwei Aspekte: Zum einen verbessern sich Dinge mit der Zeit, etwa die Luftqualität in Europa, was mit dem Umstieg von Kohle auf Gas zusammenhängt. Doch weil die benötigten Material- und Energiemengen mit dem Wachstum zunehmen, muss in anderen Ländern mehr Abbau stattfinden. Wir befinden uns also in einem Wettlauf zwischen der Verbesserung und der Zerstörung der Umwelt, wie wir sie im Klimawandel und im Verlust der biologischen Vielfalt auf der ganzen Welt sehen.

Umweltökonom Joan Martínez-Alier
Die Folgen des Wirtschaftswachstums beschreibt der Umweltökonom Joan Martínez-Alier in seinem im Dezember im Elgar-Verlag erscheinenden Buch "Land, Water, Air and Freedom".
Fotos: APA / AFP / Antioquia Government, Joan Vidal, Angie Vanessita

STANDARD: Es gibt auch das Argument, dass Wirtschaftswachstum in armen Ländern Wohlstand erzeugt. Ist es angesichts von Armut nicht zynisch, Degrowth einzufordern?

Martínez-Alier: Keineswegs, denn einerseits werden im Bruttoinlandsprodukt viele Aspekte nicht erfasst, die zu menschlichem Glück und Wohlstand beitragen – dazu zählt auch eine intakte Umwelt. Wachstum kann daher diese Faktoren nicht abbilden. Zum anderen ist Armut multidimensional: Wenn zum Beispiel ein Bergbauunternehmen in Peru ein großes Loch bohrt, um Kupfer zu gewinnen, werden einige Anwohner Gehälter bekommen, die sie ohne Bergbau nicht erhalten hätten. Dennoch werden die Einheimischen protestieren, weil sie ihre Lebensgrundlage verlieren. Wie ließe sich das finanziell je aufwiegen? Ich denke daher, dass viele Orte in der Welt aufgrund des extraktiven Wachstums real ärmer werden.

STANDARD: Darüber hinaus verursachen die Industriestaaten den Löwenanteil der Emissionen. Ist Degrowth also nur für den Globalen Norden?

Martínez-Alier: Hätte die ganze Welt den derzeitigen Durchschnittsausstoß Indiens, läge der Treibhauseffekt nicht über dem natürlichen Maß. Damit will ich sagen: Ja, die Verantwortung liegt bei den reichsten zehn Prozent der Länder.

STANDARD: Hierzulande wird oft grünes Wachstum gefordert: Mit innovativen Technologien, erneuerbaren Energien und Recycling könne die Wirtschaft klimafreundlich wachsen. Überzeugt Sie das?

Buchcover
Joan Martínez-Aliers Buch "Land, Water, Air and Freedom - The Making of World Movements for Environmental Justice" erscheint im Dezember in englischer Sprache.
Angie Vanessita

Martínez-Alier: Es wird eine Veränderung kommen müssen, hin zu einer ökologisch, aber auch sozial gerechten Wirtschaft. Dafür sind neue Technologien nötig, zudem ein stabiles Bevölkerungswachstum und robuste Umverteilung. Doch ohne Degrowth wird es nicht gehen, denn dieser Übergang wird nicht nur Geld kosten, sondern auch Energie und Rohstoffe. Beispielsweise protestieren derzeit Einwohner des Jadar-Tals in Serbien gegen eine geplante Lithiummine: Das Metall ist für die grüne Wende unerlässlich, doch der Abbau führt zu Schäden. Die Umstellung ist also in energetischer, materieller sowie sozialer Hinsicht kostspielig – dabei auch noch zu wachsen, halte ich für ausgeschlossen. Ich glaube daher nicht an grünes Wachstum, sondern an grünes Post-Wachstum, zusammen mit Verbesserungen für die Armen der Welt.

STANDARD: Eine Abkehr vom Wachstum wäre ein wirtschaftlicher Paradigmenwechsel. Wie überzeugt man Menschen davon?

Martínez-Alier: Wir erleben an den Fronten des Extraktivismus bereits Degrowth in der Praxis, wenn die lokale Bevölkerung gegen Umweltzerstörung protestiert. Diese Menschen würden wohl Degrowth als Idee aus dem Norden ablehnen, doch wie sie handeln, ist letztlich Post-Wachstum. Die Protagonisten der sozialen Frage waren unter anderem die Gewerkschaften – in der ökosozialen Frage sind es die Armen des Globalen Südens und indigene Völker. Gerade Letztere kämpfen um ihre Lebensweise und bringen Werte jenseits des Wachstumszwangs mit, zum Beispiel einen gewissen Respekt vor der Natur. (Dorian Schiffer, 16.7.2023)