Häuserfronten in der Wiener Josefstadt
In der Josefstadt, dem achten Wiener Gemeindebezirk, soll ein Koch eine Arbeitskollegin erst sexuell belästigt und dann geschlechtlich genötigt haben.
Maria von Usslar

Wien – Der Prozess gegen Herrn M. ist eines dieser Verfahren, die der Öffentlichkeit ungefilterte Einblicke in die Lebensrealitäten anderer Menschen ermöglichen, in diesem Fall Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gastrobranche. Ein 59-jähriger Familienvater soll am 4. November in einem durchaus renommierten Lokal in Wien-Josefstadt eine damals 22-jährige Kellnerin zunächst am Gesäß begrapscht haben und sie einige Stunden später in einem Vorratslager genötigt und ihre Hand über der Hose an sein Geschlechtsteil gepresst haben. Vorwürfe, die der unbescholtene Koch strikt von sich weist.

Er habe an diesem Tag nur einmal mit der jungen Frau interagiert, beteuert der in Asien geborene Österreicher. Die Frau habe ihn gefragt, ob er einen Gürtel habe, da ihre Hose rutschte. Hatte er nicht, aber als Küchenchef eine praktische Lösung parat: Er habe Frischhaltefolie zu einer Schnur gerollt und ihr gegeben. Sonst sei an diesem Tag zunächst nichts Besonderes vorgefallen, erklärt der von Robert Lattermann verteidigte Angeklagte.

Erst gegen 17.30 Uhr habe er mit der Kellnerin wieder kommuniziert – und zwar, nachdem ihm ein weiterer Service-Mitarbeiter die angeklagte sexuelle Belästigung der Kollegin – der Griff aufs Gesäß – vorgeworfen habe. "Warum hat er mit mir geschimpft?", habe er die Kollegin in dem Lagerraum gefragt, aber keine Antwort bekommen.

Gürtelersatz aus Frischhaltefolie

"Warum soll die Frau lügen?", zeigt sich Stefan Apostol, der Vorsitzende des Schöffensenats, der sich mit Beisitzerin Eva Brandstetter und den beiden Laienrichterinnen bereits für den Teichtmeister-Prozess am 5. September warmlaufen kann, interessiert. M. hat erst keine überzeugende Antwort, dann aber eine Theorie: Der Kellner sei wegen der Gürtelgeschichte auf ihn eifersüchtig gewesen und habe die Kellnerin – wie sich herausstellt dessen Freundin – ebenso wie eine weitere Mitarbeiterin dazu angestiftet, ihn zu belasten.

Den betont gelassen verhandelnden Apostol überzeugt das nicht wirklich. Denn die zweite Kellnerin hat nicht nur erlebt, wie der Angeklagte das Opfer am Handgelenk packte und in den Lagerraum zerrte, den sie dann weinerlich verließ. Der Vorsitzende kann auch auf Whatsapp-Nachrichten im Akt zugreifen. Zwischen 17.49 Uhr und 17.50 Uhr hatte die Kellnerin ihrem Freund mehrere Botschaften geschickt und berichtet, dass sie sich jetzt aus Angst am Klo eingesperrt habe, nachdem M. ihre Hand auf seinen Penis gedrückt und gedroht habe, er könne sie auch vergewaltigen. Da ihr Freund aber bereits Dienstschluss hatte, reagierte er erst eine halbe Stunde später, kam zurück ins Lokal und schmiss den Koch hinaus.

Drei Tage später eskalierte die Situation endgültig. Der Freund wollte die Angelegenheit nochmals mit dem Koch besprechen. Dessen Reaktion: Die Frau sei "schon ein bissi selbst schuld", worauf der Lebensgefährte die Nerven verlor und er dem Angeklagten einen Faustschlag ins Gesicht verpasste. Bedenklich ist der Umgang des Arbeitgebers mit dieser Angelegenheit: Der Freund wurde nach der Attacke per SMS fristlos entlassen, das Dienstverhältnis mit der Kellnerin einvernehmlich aufgelöst. Nachdem sie eigentlich mit der Lokalleiterin "von Frau zu Frau reden wollte", was diese aber ablehnte. Der Inhaber erklärte ihr, er glaube ihr nicht, und löste das Arbeitsverhältnis. Für den Koch gab es zunächst keine Konsequenzen.

Fliegende Maroni-Presse

Allerdings zeigte der Koch den Freund wegen des Faustschlages an. Im Zuge der Ermittlungen trat der Hintergrund zutage – und der 59-Jährige mutierte vom Kläger zum Angeklagten. Die beiden Kellnerinnen und der Kellner bleiben als Zeuginnen bei ihrer Aussage. M. habe in den Wochen vor dem Vorfall immer häufiger während der Arbeit getrunken, was sich auch auf die Qualität der Speisen auswirkte, erzählen sie. Bei einer Gelegenheit hätte er wütend mit einem von einem Gast retournierten Fisch in der Küche herumgewachelt, bei einer anderen soll M. eine Maroni-Presse quer durch den Raum geschleudert haben. Nachdem die zweite Kellnerin darauf aufmerksam machte, dass Maroni-Reis idealerweise tatsächlich Edelkastanien enthalten sollte.

Alle drei betonen aber, davor keine Probleme mit dem langjährig angestellten Angeklagten gehabt zu haben, erst als sein Alkoholkonsum stieg, sei er "laut und ungezügelt" geworden. Der Kellner berichtet darüber hinaus, dass beim ersten Gespräch nach der unsittlichen Berührung der Angeklagte die Tat nicht einmal abgestritten habe. Es sei "nur ein Spaß gewesen", habe M. behauptet. Vorsitzender Apostol will vom Zeugen auch wissen, warum er und seine Freundin den Job verloren hätten und nicht der Koch. "Ich glaube, wir waren das geringere Übel. Servicepersonal findet man leichter als einen Koch", mutmaßt er. Er habe M. auch schützen wollen und zunächst nichts gesagt, mittlerweile würde er bei einem Übergriff sofort die Polizei alarmieren.

Verteidiger Lattermann will noch weitere Mitarbeiter als Zeugen, um zu beweisen, dass sein Mandant während der Arbeit stets nüchtern sei, der Senat lehnt das aber ab, da die Alkoholisierung für die angeklagten Delikte unerheblich sei. Die Privatbeteiligtenvertreterin Barbara Steiner fordert für die Kellnerin 830 Euro: 330 Euro für drei Stunden Psychotherapie sowie 500 Euro Schmerzensgeld. 

"Das war eindeutig eine Machtdemonstration"

Die bekommt sie nach kurzer Urteilsberatung auch zugesprochen, M. wird wegen geschlechtlicher Nötigung zu 15 Monaten bedingter Haft verurteilt. "Der Senat hat nicht den geringsten Zweifel, dass es sich so zugetragen hat", begründet Apostol die Entscheidung. Das Opfer habe nicht übertrieben, die Schilderung sei in sich stimmig und glaubwürdig gewesen, darüber hinaus gäbe es auch die Nachrichten. "Sie waren enthemmt", ist der Vorsitzende überzeugt. "Sie sind ja der unersetzliche Koch, und die Frau 'nur' eine Kellnerin. Das war eindeutig eine Machtdemonstration", stellt er klar. Sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwältin verzichten auf Rechtsmittel, das Urteil ist daher rechtskräftig. (Michael Möseneder, 13.7.2023)