Besiedelung Amerikas, Riesenfaultier, Glossotherium, Ausgrabungen
Zu den wenigen Feinden von Glossotherium phoenesis zählte zweifellos Homo sapiens. Vielleicht hat der Mensch den Riesenfaultieren schon vor 27.000 Jahren nachgestellt.
Illustration: AP/Júlia d'Oliveira

Amerika ist der Kontinent, der am längsten dem menschlichen Zugriff entkam. Hunderttausend Jahre lang war der Zugang über Land von gewaltigen eiszeitlichen Gletschern blockiert. Erst als vor etwa 15.000 Jahren unter den schmelzenden Eismassen eine Landbrücke zum Vorschein kam, gelang es Homo sapiens, nach langer Reise und einigen Zwischenstopps, einen Fuß auf den Doppelkontinent zu setzen. So zumindest lauten – vereinfacht zusammengefasst – die weithin akzeptierten Annahmen über die Besiedelung Amerikas.

Im Großen und Ganzen bestätigen archäologische und genetische Mosaiksteinchen diese Hypothese von der Eroberung des Kontinents. Doch ab und zu befördern Ausgrabungen Dinge ans Licht, die so gar nicht in dieses Bild passen wollen und die Angelegenheit deutlich komplizierter gestalten. Steinklingen, die jemand vor mehr als 16.000 Jahren gefertigt hat, 23.000 Jahre alte Fußabdrücke oder Mammutknochen, an denen vor 37.000 Jahren herumgeschnitzt wurde – auch wenn viele dieser Funde in der Fachwelt umstritten sind, sie werfen Fragen auf.

Kontroverse Funde

In diese Kategorie kontroverser Funde fallen auch einige Objekte, die in einem prähistorischen Felsunterstand im heutigen Brasilien entdeckt wurden. Der sogenannte Santa Elina Shelter in einer Bergregion südlich des Amazonasbeckens entpuppte sich nach seiner Entdeckung 1984 als urzeitliche Fundgrube, in der während der letzten Jahrzehnte Steinwaffen, Felsmalereien, Reste von Lagerfeuern und die Gebeine riesiger Tiere freigelegt worden sind.

Das besondere an Santa Elina ist jedoch nicht der Reichtum an Funden, sondern das mutmaßliche Alter mancher Objekte: Einige Faultierknochen mit potenziell menschlichen Bearbeitungsspuren wurden in einer rund 27.000 Jahre alten Bodenschicht gefunden – sie wären damit über 10.000 Jahre älter als alle abgesicherten menschlichen Spuren in Amerika. Obwohl frühere Arbeiten schon auf diese Diskrepanz hingewiesen haben, wurden die betreffenden Tierknochen bisher noch nicht eingehend untersucht. Dieser Aufgabe hat sich nun ein internationales Team um Thais Pansani von der Föderalen Universität São Carlos, São Paulo, gewidmet.

Faultiergiganten

Bei Faultieren denkt man heute an ein affengroßes Wesen, das sich gemächlich durch die Baumkronen hangelt. Vor 10.000 Jahren sahen einige Angehörige dieser Tiergruppe freilich etwas anders aus: Glossotherium phoenesis beispielsweise ragte über drei Meter empor, wenn er sich auf die Hinterbeine stellte. Das Tier wog wohl mehr als eine Tonne und ernährte sich hauptsächlich von Gras. Vor den wenigen Feinden, die es mit so einem Riesen aufnehmen konnten, schütze sich Glossotherium unter anderem mit kleinen Knochenplatten, die in seiner Haut eingelagert waren.

Besiedelung Amerikas, Riesenfaultier, Glossotherium, Ausgrabungen
Eines der drei Fundstücke aus Riesenfaultierknochen als virtuelle Nachbildung. Genau Analysen der Oberfläche brachten Spuren menschlicher Bearbeitung ans Licht.
Foto: Thaís Pansani

Offenkundig passte das Riesenfaultier auch in das Beuteschema von Homo sapiens. Die große Anzahl der Knochenplatten, die in Santa Elina gefunden wurde, deutet darauf hin. Die auch Osteoderme genannten, wenige Zentimeter großen Knochenstücke konnten zwei Faultier-Individuen zugeordnet werden, die in zwei unterschiedlichen Fundschichten lagen. Drei Knochenstücke ragen dabei besonders hervor. Alle drei stammen aus der älteren Schicht 3, lagen zwischen Steinwerkzeugen und anderen menschlichen Artefakten und weisen selbst Spuren einer Bearbeitung auf, darunter auch sorgfältig gebohrte Löcher.

Dass diese besonderen Stücke noch nicht eingehend untersucht worden waren, schmälerte nach Ansicht einiger Fachleute bisher jedoch die Glaubwürdigkeit der Knochenartefakte. Waren hier tatsächlich schon vor 27.000 Jahren Menschen am Werk? Um das zu bestätigen oder zu widerlegen, hat sich die Gruppe um Pansani die Objekte mit besonderer Akribie vorgenommen. Mithilfe verschiedener Vergrößerungs- und Bildgebungsverfahren analysierten die Forschenden die Knochen Millimeter für Millimeter.

Vielleicht Schmuck

Am Ende kam das Team jedoch zu keinem neuen Schluss: Die polierten Oberflächen, die Spuren von Interaktionen mit Steinwerkzeugen wie Schnitte und Kerben, die Kratzer in unterschiedliche Richtungen, vor allem die intensiven Gebrauchsspuren und nicht zuletzt die glatten Bohrlöcher zeigen nach Ansicht von Pansani, dass diese drei Osteoderme von Menschen zu Artefakten umgearbeitet worden waren.

Diese handwerklichen Arbeiten geschahen innerhalb von Tagen bis wenigen Jahren nach dem Tod der Tiere, jedenfalls lange vor der Fossilisierung des Materials. Möglicherweise handelte es sich bei den Objekten um persönliche Schmuckstücke, wie die Wissenschafter im Fachjournal "Proceedings of the Royal Society B" berichten. Die tatsächliche Bedeutung dieser Artefakte für die einstigen Bewohner von Santa Elina sei allerdings heute praktisch nicht mehr nachzuweisen, sagte Mírian Pacheco, Co-Autorin der Studie.

Besiedelung Amerikas, Riesenfaultier, Glossotherium, Ausgrabungen
Vielleicht trugen die Menschen des späten Pleistozän diese Objekte als Schmuck um den Hals.
Foto: Thaís Pansani

Auch die zeitliche Einordnung scheint überzeugend. Die von Menschenhand modifizierten Faultierknochen lagen in einer archäologischen Schicht, die mehrere Datierungsvarianten zuließ. Die Uran-Thorium-Datierung (U/Th) der Knochen selbst ergab ein Alter von 27.000 Jahren, plus/minus 2.000 Jahre. Auf Basis der optisch stimulierten Lumineszenz (OSL) kam man bei Quarzkristallen aus diesem Fundhorizont auf 23.000 bis 27.000 Jahre, und Kohlestückchen aus derselben Tiefe waren laut der Radiokarbondatierung 27.400 Jahre alt.

Die Debatte geht weiter

"Unsere Untersuchungen untermauern die bisherige Interpretation dieser Funde", sagte Pansani, "nämlich dass Menschen bereits vor 27.000 Jahren in Zentralbrasilien lebten." Zwar könnten sich Löcher in solchen Knochen auch auf natürlichen Wegen bilden, doch der morphologische Unterschied zu absichtlich gebohrten Löchern sei makroskopisch und mikroskopisch deutlich zu erkennen, meinen die Forschenden. Unter den tausenden fossilen Osteodermen dieser Fundstätte seien der polierte und perforierte Zustand dieser drei Knochenplatten daher einzigartig.

Diese Ergebnisse würden den Mainstream-Szenarien zur Besiedlung Amerikas zwar widersprechen, schreibt das Team, doch dürfe man nicht vergessen, dass bei vielen wichtigen Fundorten in Südamerika bisher buchstäblich nur an der Oberfläche gekratzt wurde. Das Bild sei also alles andere als vollständig, und die Debatte über die Ankunft des Menschen in Amerika sei noch lange nicht beendet, meinte Pansani. (Thomas Bergmayr, 17.7.2023)