Der Gigant Franz Schuh lässt uns wissen: "In der Hitze umherzuirren ist selten zielführend."

Diese Glosse ist bahnbrechend, auch weil es sich um einen Rückblick auf einen Sommer vor dem Sturm handelt. Ich vermute jetzt zur Sommerszeit, eines Tages im Herbst, sagen wir im Herbst 2024, wird sich die Krise, die aus vielen Krisen besteht, im vollen Ornat zeigen, und man wird nirgendwo mehr hinfahren können, und schon gar nicht mit der Bahn, um so einer Krise zu entgehen.

Im Dezember 2022, genauer geraten am 27. Dezember, wird eine für Derartiges zuständige Ministerin im verlogenen Ton der Zuversicht und der Entscheidungskraft verlautbaren, es könne jederzeit zu einem Stromausfall kommen. "Wir sollten nicht so tun, als ob das nur Theorie wäre. Wir müssen uns in Österreich und Europa auf Blackouts vorbereiten." Ja, die Ministerien sind der Hort der wahren Propheten: Sie prophezeien, was niemals kommen wird und wogegen sie sich jetzt schon stolz wappnen. Gegen das, was dann wirklich kommt, bleiben wir wie eh und je hilflos.

Sprachrohr aller Fahrpläne

Aber was ist? Sind wir, nein, werden wir vorbereitet sein? Wären wir unvorbereitet, dann würde ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger spätestens am vierten Tag eines Blackouts nicht mehr in der Lage sein, sich selbst zu versorgen. Ich melde mich für dieses Drittel an und höre dem fundierten Geschwätz sogenannter Experten zu: Für 14 Tage Essen kaufen und Hygiene-Artikel!

Der Wiener Hauptbahnhof ist zwar unübersichtlich groß, es haftet ihm aber etwas kleinlich Provinzielles an, und – na gut –, das mag als Satire durchgehen, anders als die Hölle vom 1. Juli 2022. An dem Tag war alles verrückt, wenn auch nicht die absolut zuverlässige Stimme der wunderbaren Chris Lohner, die wie zum Hohn in das Chaos ungerührt ihre Botschaften über den Zugverkehr verkündigte.

Chris ist die generelle Stimme für alle Bahnhöfe der Republik Österreich, sie ist das Sprachrohr aller Fahrpläne. An diesem 1. Juli erinnerte sie in ihrer eleganten und unwiderlegbaren Sachlichkeit auch an die gesetzlich vorgeschriebene Maskentragepflicht – an eine Pflicht, der aber bahnbrechend, den Bann des Gesetzes brechend, kaum wer nachkam. Die Bevölkerung rotzt lieber herum und sucht sich dafür die größten Menschaufläufe der Stadt. Die Wiener wimmeln so gerne in der Menge ungeschützt und ansteckend – und das heißt dann im Jargon der pädagogischen Elite "Eigenverantwortung".

Bundesbahnschutzanzüge

An diesem heißen Julitag fuhr ich per Aufzug in den Sondergastraum, um mir zu Höchstpreisen mein Business-Class-Ticket zu holen. Da standen drei Wächter in Bundesbahnschutzanzügen vor der Tür. Einer griff sich den Haltegriff meines Designerkoffers, mit dem ich businessmäßig stets einen guten Eindruck mache. "Na, sehen Sie nicht?", fragte der Mann in Dienstbekleidung. "Was denn?, was denn?", erwiderte ich mit drohendem Unterton. "Na, sehen Sie denn nicht, dass niemand da ist?" Ah, Pandemie, Personalmangel. Und er fügte hinzu: "Der Raum für die Erstklassigen ist geschlossen, Sie Pinkel." Ich antwortete standesgemäß: "Lassen Sie sofort meinen Koffer los, Sie Proll. Sonst zeig ich Ihnen, was ein Klassenkampf ist, Sie unnötig Diensthabender."

Die drei drängten mich in den Aufzug zurück, ich leistete keinen Widerstand, sondern tat ganz so, wie es im Polizeijargon stets erstaunt heißt: Der Beschuldigte kooperierte, er widersetzte sich nicht.

Und unten in der Halle sah ich es: Tausende, ja Abertausende umschwärmten wütend den Fahrkartenschalter. In Linz beginnt’s, aber wie kommt man hin? Die von der Bundesbahn gestellten Beaufsichtigungsorgane des brodelnden Haufens steckten in Schutzanzügen. Das war wie in New York, NYPD, dort trägt man im Namen des Police Departments, wenn man zum Tatort eilt, auch solche Uniformen.

Na gut, ich schleppe meinen Koffer wieder raus, irre umher wie der verirrte Belugawal in der Seine, schreibt Schuh.
Heribert Corn

Brandgefährlich

Der Haufen derer, die an diesem 1. Juli 2022 in Wien nach einem Ticket gierten, wäre aber auch durch weltstädtische Polizeimaßnahmen nicht zu bändigen gewesen. Die explosive Mischung aus einheimischen Pendlern und erhitzten Touristen war brandgefährlich. Dennoch schlich ich mich an die Menge heran und hatte Glück, denn ich bin behindert und kann nur schlecht gehen. So nahm mich eine junge Bedienstete in ihren Schutz und schleuste mich zu einem Ticketautomaten, der unter dem Protest aufgewühlter Menschen mein Ticket ausspuckte, äh, ausdruckte, nicht Business-Class, aber immerhin Erste Klasse.

Der Zug war bahnbrechend voll. Nur die Hunde hatten ein schönes Leben. Sie ließen die Zunge heraushängen und machten sich unter den Sitzen breit, die es für Passagiere nicht mehr gab.

Passagiere, die keinen Sitzplatz reserviert hatten, hingen wie Trauben bei den Eingangstüren. Schaffner kam eh keiner, man hätte sich den Ticketautomaten ersparen können. Niemand wusste, ist das der Kriegsausbruch oder schon das Kriegsende? In meiner Phantasie hörte ich die Musik, die in der Toilette meines Lieblingsrestaurants en suite gespielt wird: Bahn frei, schnelle Polka von Eduard Strauss, opus 45.

Hauptbahnhof heißt nix

Der Wiener Hauptbahnhof heißt Hauptbahnhof. Aber Hauptbahnhof heißt doch nix. Wenn schon Abfahrt, dann "Franz-Josefs-Bahnhof", und ich weiß, das Umtaufen von aristokratisch auf demokratisch ist ein beliebtes Hobby unserer Stadtregierung: Die Rudolfstiftung heißt heute Klinikum Wien-Mitte, und das Wilhelminenspital heißt gar Klinik Ottakring – ich hoffe für die dort Internierten, dass ihnen bereits zum Frühstück ein Ottakringer Bier serviert wird.

Ich hingegen fahre nach Irnfritz, und das ist durch den Bahnhofsnamen Franz Josef normalerweise ein kaiserliches Vergnügen, ein exklusiver Wunsch, weil man unter den Milliarden Menschen auf der Welt der einzige ist, der nach Irnfritz will. Ich sage also zum Taxifahrer "Franz-Josefs-Bahnhof", und bin gerüstet zum Streit, den ich mit Taxifahrern in Wien zelebriere: "Was, Sie kennen den Franz-Josefs-Bahnhof nicht, haben Sie ihr Taxidiplom beim Brustschwimmen gewonnen?"

"Überall Baustelle"

Aber diesmal nix, kein reinigender, kathartischer Streit in der Sommerhitze. Der Taxler kurvt herum, als ob er von der Weltlage inklusive ihrer Wiener Abart was verstünde. Und schließlich, am Ziel, will er mich ausladen. "Da rein", sagt er. – "Ich bitte Sie", erwidere ich an der Grenze zum Flehentlichen. "Da kann man doch gar nicht rein." – "Franz-Josefs-Bahnhof", sagt er, "Franz-Josefs-Bahnhof." Ich: "Aber sehn Sie denn nicht, alles zugerammelt, hier ist bloß ein Loch, mit Planken zugedeckt. So viel Sprengkraft habe ich nur mit meinen Schriften – ich hab keinen Bohrer, um Löcher in Bahnhöfen freizulegen."

"Ja, Sie gehören um die Ecke", sagt der Fahrer, "und dann rechts rein." – "Würden Sie mich bitte um die Ecke bringen?" – "Kann ich nicht", sagt der Fahrer, "hab ich nicht gewusst, da hinten ist der Bahnhof. Ich kann nicht um die Ecke – überall Baustelle." Und "Baustelle" ist das Schlagwort des Wiener Sommers im Jahre 2022 – des letzten Sommers, in dem alles noch so zu sein scheint wie immer –, es ist nur eine Atempause im Leben, eine Zeit, um bedächtig Luft zu holen oder nach Irnfritz zu fahren. Wiener Sozialromantiker nennen diese Zeit eine Gründerzeit, wegen der vielen Baustellen, und um angesichts der weltweiten Zerstörungslust sich in die Tasche zu lügen.

"Baustelle" – das ist das Codewort, das den Sommer 2022 entschlüsselt. Auch über meiner Wohnung hat der Herr Hofrat eine Baustelle, es wird gehämmert und gestaubt, aufgerissen und zuzementiert. Im Haus sagen wir, das machen die Hofrats nur, um die Ukrainer loszuwerden, die sie in einem Anfall philanthropischer Parteilichkeit aufgenommen haben. Aber das ist eine Unterstellung. Die Unterstellung ist halt die einzige Stellung, die wir Wiener nehmen. Unser Geist ist von edlem Neutralismus erfüllt.

Der Irrgarten der ÖBB

Also ich raus aus dem Taxi, links rechts vorwärts. Der Irrgarten der ÖBB war irre schlecht beschriftet. Hast du einen Plan, fahr nicht mit der Bahn! Auf Schleichwegen gelange ich endlich in einen ungeheuerlichen Raum, der einst eine Bahnhofshalle war – in einen dunklen Raum, in dem hin und wieder Lichtstreifen aufgrund von Schweißerarbeiten aufblitzen. Presslufthämmer toben sich aus. Die Halle dröhnt vom Baulärm. Mir fällt die buchstäbliche Verwandtschaft von Höhle und Hölle ein. Hätte ich einen Filmregisseur gekannt, der eine Location für die Hölle sucht, hier ist sie, hätte ich ihm gesagt. Genau hier, wo einmal der Franz-Josefs-Bahnhof war.

In der Höllen-Höhle arbeiten die Menschen nach dem Sisyphos-Prinzip: Sisyphos, das ist die Figur im antiken Mythos, die einen Felsblock auf ewig einen Berg hinaufwälzen muss, der, fast am Gipfel, jedes Mal wieder ins Tal rollt; Sisyphos, so das Lexikon, steht und fällt für eine ertraglose und dabei schwere Tätigkeit ohne absehbares Ende – ganz so wie ich am Franz-Josefs-Bahnhof. Es ist offenkundig, an diesen Baustellen wird nichts errichtet, findet kein Aufbau statt. Abgesehen von ein paar Notwendigkeiten ist die Baustelle Wien ein Selbstzweck, für den sich Menschen und Firmen abarbeiten, einfach so und mit dem edlen Zweck, "die Wirtschaft in Gang zu halten".

Franz Schuh, "Ein Mann ohne Beschwerden". € 25,70 / 480 Seiten. Zsolnay-Verlag, 2023. Das Buch erscheint am 24.7.
Verlag

Verirrter Belugawal

In der Höllen-Höhle sehe ich keinen Fahrkartenschalter. Wo einmal einer war, ist schlechthin nichts: das Nichts der Baustellen von Wien. "Wo?", frage ich eine der herumwerkelnden Gestalten. – "Ja, da müssen S’ wieder raus, rechts oder links, vorne oder hinten, Sie sehen’s ja, da ist eine Holzhütte, und in der Ecke bei der Hütte steht der Fahrkartenautomat." – "Waass?", frage ich, "nein, mit mir nicht, da kauf ich mir mein Ticket im Zug." – "Um Gottes willen", sagt Sisyphos, "das ist unmöglich. Man wird Sie bestrafen", und der Schwerarbeiter fällt vor mir auf die Knie, mit gefalteten Händen, um eine Straftat zu verhindern: "Tun Sie’s bitte nicht! Gestern hat die Bahnpolizei von České Velenice 15 Leute abgeführt und sozial ruiniert. Sie wollten ihr Ticket im Zug kaufen …"

Na gut, ich schleppe meine Koffer wieder raus, irre umher wie der verirrte Belugawal in der Seine. Man braucht an der Baustelle, ehemals Franz-Josefs-Bahnhof, ein Navigationsgerät. Die Einweisung durch den Höllen-Insassen war natürlich halb richtig und dann doch wieder ganz falsch. In der Hitze umherzuirren ist selten zielführend. Aber da, da war der Ticketautomat tatsächlich, ein Zufallsfund in der Welt, in der so vieles verlorengeht. "Bis Irnfritz", sage ich zum Fahrkartenkontrolleur im Zug, und er: "Wer gehört noch zu Ihrer Gruppe?" – "Was, Gruppe?" – "Na, das is’ ein Gruppenticket." – "Ach, ich hab mich eh so gewundert, dass eine Fahrkarte nach Irnfritz dermaßen teuer ist."

Wir standen unsere Männer

Halt, halt – ein Bericht vom Sommerende des Jahres 2022: "800 Personen aus defektem Zug bei Linz evakuiert – ein mit 800 Personen besetzter Railjet ist Sonntagabend im Süden von Linz aufgrund eines technischen Defekts auf freier Strecke stehengeblieben und konnte die Fahrt nicht fortsetzen. Zuerst hat die Österreichische Bundesbahn versucht, den defekten Zug auf offener Strecke zu reparieren. Die Fahrgäste wurden mit Durchsagen zum Verbleib im Zug aufgefordert. Ein Aussteigen auf offener Strecke unmöglich, Aussteigen war den Passagieren strikt verboten. Sie wurden mit Bergeplattformen von der Berufsfeuerwehr Linz in eine Ersatzgarnitur evakuiert. Drei Personen benötigten nach der Aufregung medizinische Hilfe. ‚Die drei‘, so der Feuerwehr-Einsatzleiter, ,haben wir liegend aus dem kaputten Zug heraustransportiert, das heißt, sie waren liegend, wir nicht. Wir standen aufrecht unseren Mann, beziehungsweise unsere Männer, sozusagen. Und die Geretteten wurden von uns in ein Spital gebracht.‘

Das Zugpersonal beruhigte die Passagiere durch einen Chorgesang, der monoton lautete: ‚Die Fahrkarten bitte, die Fahrkarten bitte!‘ Während der beruhigende, sehr gut auf die Seelen der Menschen in Gefahr einwirkende Gesang, während damit die Kunst ihre Pflicht tat, erfolgte die Kür zunächst auf dem Nebengleis, wo ein Zugführer den Ersatzzug schön langsam herangeführt hatte, sodass das direkte Um- und Einsteigen mehr oder weniger ohne Weiteres auf dem Nebengleis möglich war – direkt, von Tür zu Tür. ,Kurzerhand‘, hieß es vom Einsatzleiter der Feuerwehr, rhetorisch etwas ungeschickt, kurzerhand funktionierte die Feuerwehr Bergeplatten um, wie sie üblicherweise zum Retten von Personen bei Lkw-Unfällen verwendet werden. Damit baute man behelfsmäßige Brücken zwischen den Türen des defekten und des Ersatzzuges am Nebengleis. ,Denn Aussteigen wäre zu gefährlich gewesen‘, sagte immerhin der Feuerwehr-Einsatzleiter, ein bekannt tapferer Mann, der noch nicht ausgestiegen ist, sondern ewig weitermacht wie bisher. Für die Austria Presse Agentur fügte er hinzu, damit sie es sich genau merkt: ,Da geht es ja gleich zwei Meter hinunter.‘ Die Evakuierung sei dann von der Feuerwehr, ÖBB, der Polizei und dem Rettungsdienst durchgeführt worden. Conclusio: Insgesamt dauerte die Wartezeit vier Stunden." (Franz Schuh, 16.7.2023)