Andrzej Stasiuk
Das Abgründige sinnlich beschreiben: Andrzej Stasiuk.
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Abseits zeitgeistiger Strömungen gibt es im großen Kulturraum Mitteleuropa noch unbeirrte Qualitätsliteratur – etwa Drago Jančar in Slowenien, Slobodan Šnajder in Kroatien oder Andrzej Stasiuk in Polen. Alle drei Autoren setzen auf große Themen, die sie abstrakt und realistisch zugleich umsetzen; die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, aus der jeweiligen Perspektive ihrer Herkunft, bestimmen ihre Motivwelt. Ein Grundmuster für diese Literatur hat der serbische Autor Aleksandar Tišma mit seinem Roman Der Gebrauch des Menschen vorgegeben: Distanziert und sachlich wird darin die Brutalität des Menschseins, die Vernichtung der persönlichen Würde beschrieben.

Im Abgrund des Krieges

Mit seinem Roman Grenzfahrt führt uns der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk diese moralische Dringlichkeit vor Augen und zeigt, wie schnell der Mensch im Abgrund des Krieges zur elenden Kreatur werden kann. Handlungsort ist ein polnisches Dorf am Bug, jenem Fluss, der ab 1939 deutsch-sowjetische Demarkationslinie ist, ein Fluchtpunkt für viele, die "hinüber" wollen und ihre letzten Hoffnungen auf den Fährmann Lubko setzen. Der scheut für Geld nicht die Gefahr, aber er allein bestimmt, wen er im Schatten der Nacht übersetzt und vor dem Zugriff der deutschen Besatzer rettet.

Den jungen Maks und seine Schwester Doris weist er zurück: Sie sind Juden aus der Stadt, und auch bei der polnischen Bevölkerung sind sie nicht willkommen.

Das Schicksal der beiden ist vorgezeichnet, aber wie brutal es enden wird, mag man beim Lesen noch gar nicht erahnen. Neben der deutschen Wehrmacht auf der einen und den sowjetischen Soldaten auf der anderen Seite des Flusses agiert im Untergrund eine polnische Partisanenmiliz, die denselben unmenschlichen Gesetzen folgt.

Die Brutalität der Partisanen

Maks und Doris können die Brutalität der Partisanen von ihrem Versteck aus beobachten: Einmal erleben sie das ebenso unbeholfene wie grausame Schlachten eines Schweins mit, das andere Mal – es macht keinen Unterschied – die Hinrichtung eines mutmaßlichen Spions. Ein an der Tötung beteiligter Junge fragt: "Warum?", und bekommt zur Antwort: "Damit du zum Henker wirst." Nachher ist man überrascht, dass das Töten "so einfach" sein kann. "Ein Moment, und vorbei." Die Antwort auf die Frage, ob der Getötete wirklich ein Spion war, ist ebenso lapidar: Wenn auch nicht wie ein Spion, so habe er doch wie ein Jude ausgesehen. Und der Zugführer habe es angeordnet. So erhält die Gewalt ihre Legitimation, schließlich habe man ja nur einen Befehl ausgeführt.

Für den jungen Maks ist bald klar: Auf dieser Seite "überlebt keiner. (...) Hier werden alle sterben, alle westlich des Flusses." Umso mehr, als die Handlung am Vorabend des deutschen Überfalls auf Russland spielt, in einer unerhört angespannten Situation.

Im Kern beschreibt Stasiuk dieses Warten, jenen hoffnungslosen Stillstand, in dem nichts auf ein Überleben hindeutet. Die einzige Gesetzmäßigkeit ist Gewalt, und wie der Autor diese barbarische Alltäglichkeit, die Gleichgültigkeit des Schicksalhaften festhält, ist eine formale Meisterleistung, denn es ist immer wieder auch ein sprachliches Innehalten: bis zur brutalen Eruption am Ende.

Stasiuk gelingt in diesem Roman nichts weniger, als das Abgründige sinnlich zu beschreiben. An Gerüchen wie Angstschweiß und Geräuschen wie dem Knacken einer Wirbelsäule wird das Animalische vorstellbar; sexuelle Begierde und Lust am Töten kreuzen sich, eine übelriechende eiternde Wunde wird zum Sinnbild der Nichtigkeit.

Andrzej Stasiuk, "Grenzfahrt". € 25,70 / 355 Seiten. Aus dem Polnischen vonmRenate Schmidgall, Suhrkamp-Verlag. 2023

Eine zweite Erinnerungsebene

Der lakonische Erzählton macht diese Darstellung umso überzeugender, ebenso das fast unbemerkte Einziehen einer zweiten Ebene, indem die Kriegserzählung von einer berührenden, fast zarten Erzählung der Erinnerung durchdrungen wird: Ein Ich, wohl der Autor selbst, fährt mit seinem dementen Vater an den Schauplatz der Romanhandlung. Für den Vater ist es der Ort seines Kindseins, er kann sich nur nicht mehr erinnern, und auch die Dörfer am Bug haben sich in eine fremde, friedliche Landschaft verwandelt.

Vielleicht ist das das einzig Tröstliche an dem Roman, dass man ohne Erinnerung aus der Zeit fallen oder wie der Ich-Erzähler seine Melancholie am Anblick eines verfallenden Hauses stillen kann.

Aus der Romanhandlung selbst aber kann keiner flüchten. "Es ist Krieg (...). Morgen bist du tot und dann?" Dieser Satz fällt inmitten einer verstörenden Vergewaltigungsszene, die in einen grausamen Tötungsakt mündet. Und einmal wird ein Dorf namens Sobibór erwähnt – so beiläufig wie ahnungslos, dass dort bald Menschen verbrannt werden ... (Gerhard Zeillinger, 16.7.2023)