Der Schriftsteller Peter Rosei war in Triest und Berlin unterwegs, auch im Stadtteil Schöneberg, dort wurde im Zweiten Weltkrieg vieles zerstört. Auf dem Foto: Plattenbauten in der Pallasstraße, die wiederum auf Stromkästen affichiert wurden.
IMAGO/F. Anthea Schaap

Letzens war ich wieder einmal zu Besuch in Berlin. Bei der Gelegenheit machte ich mich, von einer Art Nostalgie bestimmt, zu einem Rundgang in die Gegend rund um den Nollendorfplatz auf, in der ich vor vielen Jahren einmal gelebt habe. Der seinerzeit eher dumpfe, kleinbürgerliche Mief war nun frisch übertüncht, alles war herausgeputzt auf höheren Anspruch. Was mir bei meinem Gang nebenher ins Auge fiel, waren die Spuren, die die Bombenteppiche der Air Force im Zweiten Weltkrieg hinterlassen haben: Neben den pompösen Gründerzeithäusern mit ihrem ein wenig ranzigen Dekor, den Säulen und wuchtigen Balkons stehen da Wohnblocks im Stil der Wiederaufbauzeit, glatte Kästen, in Gestalt und Funktionalität allein bestimmt von der damaligen Wohnungsnot. Ich war also bereits ein wenig eingestimmt, als ich auf den Winterfeldtplatz hinaustrat: Dort, wo er seinerzeit von Bombenruinen eingefasst gewesen war, war jetzt ein Kinderspielplatz, ein Park dazu, von weiter hinter schaute ein modernes Schulgebäude herein.

Ins Stadtbild eingezeichnete Spuren

Der Krieg ist jetzt fast siebzig Jahre her, fast ein ganzes Menschenleben, dachte ich, wahrlich an der Zeit, dass seine Spuren allmählich verschwinden. Vielleicht war es gerade dieser unaufgeregt eine Summe ziehende und das Thema abschließende Gedanke, der im Folgenden meine Aufmerksamkeit schärfte und mich, ganz im Gegenteil, die ins Stadtbild eingezeichneten Spuren des Krieges und der Verbrechen, die ihn begleitet haben, umso deutlicher wahrnehmen ließ. Ich muss dazusagen, dass ich mich in diesem Stadium meines Rundganges selbst gänzlich aus den Augen verloren hatte, die Tatsache nämlich, dass die seit dem Krieg vergangene Zeit mehr oder weniger mit meiner eigenen Lebenszeit zusammenfällt. Es war ein schöner Tag, ich war heiter gestimmt, ein wenig neugierig vielleicht.

Gleich hinter dem Winterfeldtplatz steht der Pallas-Bunker, ein gewaltiger Betonklotz nach Art unserer Wiener Flaktürme, überbaut von einer Wohnhausanlage im Stil der Moderne. Am Bunker selbst sind Erinnerungstafeln angebracht, zum Teil von Menschen, die als Zwangsarbeiter an seiner Errichtung beteiligt waren. Es waren wohl diese Tafeln mit ihren Texten, die meisten der Zwangsarbeiter waren Russen oder Ukrainer, die mich mit einem Mal die Brücke zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine schlagen ließen. Plötzlich schossen mir die Bilder von Soldaten ein, von feuernden Kanonen und sich im Gelände vorwärtsarbeitenden Panzern etwa, wie man sie im Fernsehen jetzt öfter sehen kann.

Butscha und Treblinka

Ich war von Schöneberg her Richtung Nollendorfplatz spaziert und in den Wohnvierteln dort an allerhand Erinnerungstafeln für Juden vorbeigekommen, die man seinerzeit aus ihren Wohnungen verschleppt und anschließend irgendwo im Osten, in Maly Trostinec, in Riga, in Auschwitz, in Treblinka ermordet hatte. Aus eingealterter Gewohnheit hatte ich diese Tafeln im Vorbeigehen wahrgenommen, den Text der einen oder anderen auch gelesen, wie üblich von dem halben Unglauben erfüllt, dass dies Entsetzliche einmal hat Platz greifen können und ganz und gar wirklich war.

Nun sind die Kriegsvorgänge heute in der Ukraine ja nicht rassisch motiviert, es gibt inhaltlich also keinen Zusammenhang mit dem Holocaust. Die Bilder der Straßen von Butscha allerdings, die auf diesen Straßen wie Müll herumliegenden Körper der Getöteten, der Massakrierten, sie fallen so drastisch aus der Ordnung des Gewohnten, dass es für mich beim Studieren der Erinnerungstafeln im Berliner Schöneberg nicht weit war zum Entsetzen, das die Bilder aus Butscha in mir hervorgerufen hatten.

Damit man mich recht versteht: Zwischen dem Krieg in der Ukraine und dem Wüten der Nazis gibt es keinen Zusammenhang, es sei denn der von Putin fälschlich behauptete, das derzeitige ukrainische Regime wäre faschistisch.

Das Schlachthaus des Kriegs

Mittlerweile war ich aus der Pallas-Straße in die Potsdamer Straße eingeschwenkt und ging Richtung Kleistpark, den ich seinerzeit so gern aufgesucht hatte, um dort auf der Wiese vor dem Kammergericht liegend zu lesen und nachzudenken. Das funktionierte heute so gar nicht: In dem Moment, wo ich den breiten Block des Kammergerichts vor mir hatte, schnappte schon die Erinnerung an den NS-Volksgerichtshof ein, an Roland Freisler, der hier die Todesurteile über die Verschwörer, die Attentäter des 20. Juli, gefällt hat.

Es war aber nicht die historische Tatsache, die sich mir aufdrängte, es waren die geschundenen, verletzten, verwundeten Körper – das gemarterte Fleisch – das, nein, das ich nicht vor mir sah, vielmehr, ich fühlte den Schmerz, die Hoffnung, die unklare Hoffnung kam in mir auf – und wie sie schwindet, wenn man spürt, dass bald alles vorbei sein wird.

Gewöhnliche Bestien

Diese Gefühle, sie waren nicht direkt verbunden mit dem Krieg in der Ukraine, kamen nicht großartig in ukrainischen Farben daher, wenn ich so sagen darf: Es war der Horror des Tötens und des Getötetwerdens, der mich da überfiel, die Vorstellung auch, dass die Mitmenschen, denen man für gewöhnlich arglos, wenn nicht freundlich begegnet, plötzlich zu Bestien werden.

Es war das Schlachthaus des Krieges, in das ich, nein, nicht eingetreten war, das aber jetzt ausfärbte in den schönen Tag in dem mir so freundlich vertrauten Kleistpark im Berliner Bezirk Schöneberg hinein.

Autor Peter Rosei.
Heribert Corn

Von Berlin weiter nach Triest

Von Berlin reiste ich weiter nach Triest, auch eine der Städte, in denen ich einmal für längere Zeit gelebt habe. Diesmal hatte ich vor, mich ein wenig zu erholen, die Gänge und Ausflüge zu machen, die mir im Lauf der Zeit vertraut und teuer geworden sind.

Die sogenannte Napoleonica führt von Opicina nach Contovel, nach Prosecco, hoch oberhalb von Miramare gelegen. Hinter Prosecco, in Richtung auf Santa Croce zu, liegt, ein wenig abseits in einer Doline, der Cimitero Austriaco-Hungarico, ein Soldatenfriedhof aus dem Ersten Weltkrieg.

Der Karst, von Goricia bis hinüber nach Sezana, ist von solchen Friedhöfen durchsetzt, die meisten von ihnen in einer Doline gelegen, einsam und ein wenig abseits der Straßen. Es gibt aber noch eine weitere, eine ganz andere Art von Begräbnisstätten im Karst: die Foiba. Da ist die Foiba di Bassovizza, die andere die von Opicina, auf die ich erst diesmal durch Zufall stieß: Foiba – das ist ein Schlund, ein Schacht, eine sich auftuende Höhle im Karst, wo seinerzeit, zu Ende des Zweiten Weltkriegs, die siegreich einrückenden Tito-Partisanen Nazis, Mitläufer, aber auch tausende Unschuldige erschossen, zum Teil aber auch lebendig in den Abgrund hinuntergestürzt haben. (Für die Verbrechen an der Foiba von Opicina sollen italienische Faschisten und die deutsche Wehrmacht verantwortlich sein. Sie waren also die Erfinder.)

Massengräber

Kommst du gelegentlich in die im Karst gelegene Stadt Vipava, weisen dich Tafeln darauf hin, dass es hier und in der näheren Umgebung zahlreiche Massengräber aus der Zeit des Ersten Weltkrieges gibt, was in mir wieder die Erinnerung an die Massengräber von Kaisersteinbruch im Burgenland hervorruft, wo an den Grabsteinen bloß steht: 500 Russen und so fort … Und diesmal beim Besuch und der Wanderung durch den Karst drängte sich mir das Bild einer Landschaft auf, die von zerstückelten Leichen bedeckt ist. Von Ferne und doch unmissverständlich höre ich die sich überschlagende Stimme von Goebbels, ja von Goebbels, wie er schreit: "Wollt ihr den totalen Krieg?", und ich dachte und denke mir, nein, ich will keinen totalen Krieg, ich will keinen Krieg überhaupt!

Die Sprengung des Krachowa-Staudammes hat den Krieg in der Ukraine auf ein neues Level gehoben. Das Verbrecherische dieses Anschlags zeigt ganz deutlich, wohin die Reise jetzt geht.

Vollständige Zerstörung

Die vollständige Zerstörung der Stadt Cherson steht nach Bachmut wohl als Nächstes auf dem Programm. Verbrannte Erde heißt das Konzept – nicht von ungefähr ist mir Goebbels mit seiner Brandrede also aufgetaucht.

Das Gesetz der Eskalation ist sehr einfach. Jedermann kann es verstehen: Weiter! Mehr und mehr Waffen! Zerstörerischer und, wenn möglich, noch zerstörerischer. Wer kann das wollen? Wer das verantworte? Im Hintergrund, in einer noch halb verhangenen Zukunft, warten wie große Ostereier die Atombomben. Keineswegs bin ich, wie deshalb mancher / manch eine vielleicht meinen könnte, ein Hasenfuß. (Peter Rosei, 15.7.2023)