Fels in einem Tal in Tadschikistan, in den Schriftzeichen eingeritzt wurden.
Freilufträtsel: In der Almosi-Schlucht in Tadschikistan spürte ein Archäologe einen zweisprachigen Text auf, der das Entziffern der unbekannten Kuschana-Schrift ermöglichte.
Bobomullo Bobomulloev

Seit über 70 Jahren rätseln Linguistinnen und Linguisten über eine Schrift, von der nicht bekannt ist, zu welcher Sprache sie eigentlich gehört. Mehrere kurze Inschriften wurden in den heutigen Ländern Afghanistan, Tadschikistan und Usbekistan aufgespürt, verfasst wurden sie etwa 200 vor Christus bis 700 nach Christus. Nun gelang ein Durchbruch: 2022 wurde eine weitere Inschrift entdeckt, die nun ein junges deutsches Forschungsteam entzifferte. Der zweisprachige Text ist für die unbekannte Kuschana-Schrift so etwas wie der Rosetta-Stein, der vor 200 Jahren die Enträtselung ägyptischer Hieroglyphen möglich machte.

Als die Schrift vor etwa 1.900 Jahren in einen Felsen geritzt wurde, war in Zentralasien das Kuschana-Imperium besonders mächtig. Zwischen dem römischen Reich und der chinesischen Han-Dynastie war das Reich bedeutsam für Handelsrouten zwischen Osten und Westen. Entstanden ist es womöglich aus nomadischen Gruppen, und es spielte bei der Verbreitung des Buddhismus in Zentralasien und China eine wichtige Rolle. Hellenistische, hinduistische und altiranische Einflüsse lassen sich in den Spuren der Kultur nachweisen, zu denen Steinpaläste, Skulpturen und Münzen gehören.

Geografische Karte im Bereich Tadschikistan, Afghanistan und Usbekistan mit markierten Fundorten
Etliche Fundorte, an denen die unbekannte Kuschana-Schrift aufgespürt wurde, befinden sich im Bereich der heutigen Staaten Afghanistan, Tadschikistan und Usbekistan.
Jakob Halfmann

Viel ist über dieses Imperium jedoch nicht bekannt: Seine Blütezeit im zweiten und dritten Jahrhundert fällt in eine geografische und chronologische Lücke heutiger Geschichtswissenschaften. "Wir wissen deshalb so wenig darüber, weil Geschichtswissenschaften im Westen eurozentrisch geprägt sind", sagt Linguistin Svenja Bonmann von der Universität Köln, die als Erstautorin die neuen Erkenntnisse nun im Fachjournal "Transactions of the Philological Society" veröffentlichte. Während sich viele mit griechischen und römischen Autoren befassen würden, vernachlässige man authentische Quellen aus der zentralasiatischen Region. Ein weiterer Grund: "Das meiste, was damals geschrieben wurde, hielt man wahrscheinlich auf organischem Material fest, etwa Palmblättern oder Birkenrinde." Durch den raschen Verfall bleibe kaum etwas erhalten.

Der zweite Rosetta-Stein

Unterschiedliche Schriften wurden damals in dieser Kultur genutzt. Mysteriös blieben bislang aber jene Zeichen, die als "unbekannte Kuschana-Schrift" oder "Issyk-Schrift" bezeichnet wurden. Die Rätselversuche russischer und französischer Forscher waren wenig erfolgreich. Selbst ein erster "Rosetta-Stein" für diese Schrift, der in den 1960er-Jahren in Afghanistan auf einem Felsblock aufgespürt wurde, brachte bescheidene Ergebnisse. Diese sogenannte Trilingue enthielt neben der unbekannten Schrift Passagen in der altindischen Kharoshthi-Schrift sowie in der mitteliranischen Sprache Baktrisch in griechischer Schrift. Schlechte Schwarzweiß-Fotos aus frühen Forschungsarbeiten trugen nicht gerade zur Klärung bei.

Der Durchbruch kam mit einem neuen tadschikischen Fund im Jahr 2022. Wesentlich daran beteiligt war der Archäologe Bobomullo Bobomulloev von der Akademie der Wissenschaften der Republik Tadschikistan. Er ahnte, einen einzigartigen Fund präsentiert zu bekommen, als ein Mann ihm von den Schriftzeichen im Hissargebirge in der Almosi-Schlucht erzählte. "Ich wusste zu Beginn noch nicht, dass sich der Fund auf die Kuschana-Zeit datieren lässt", sagt Bobomulloev. Es war jedoch klar, dass die Inschrift aus der präislamischen Zeit stammen musste, also vor dem siebenten Jahrhundert verfasst wurde.

Mit dem Slider werden die Schriftzeichen, die in den Stein geritzt wurden, deutlicher erkennbar. Die Schrift dürfte von rechts nach links verlaufen.

Das deutsche Forschungsteam hatte von dem bemerkenswerten Fund erfahren, suchte den Kontakt zu Bobomulloev und ließ sich Fotos von der Inschrift schicken, die aus unterschiedlichen Winkeln aufgenommen wurden. Es handelte sich um eine Passage in der mysteriösen Kuschana-Schrift sowie eine in griechisch-baktrischer Schrift und Sprache.

Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter von den Universitäten Köln und Würzburg gingen ähnlich vor wie einst Jean-François Champollion bei der Enträtselung der Hieroglyphen. Sie konnten bereits ungefähr abschätzen, wie viele Schriftzeichen es gibt und wie das Schriftsystem funktionieren könnte, dabei hilft das Wissen um andere Schriften, die damals in dieser Region genutzt wurden. Dann folgte eine Analyse der Zeichenverteilung, parallele Sequenzen in verschiedenen Inschriften wurden ausgemacht.

Der König der Könige

Besonders hilfreich war der Herrschertitel "König der Könige", der in mehreren Fragmenten auftauchte. Er konnte im neuen Fragment entdeckt und mit der bereits bekannten afghanischen Trilingue verglichen werden und half vor allem dabei, auf die Spur der Sprache hinter den Inschriften zu kommen. Auch der Königsname Vema Takhtu half beim sprachwissenschaftlichen Puzzle.

Fotos von in Stein geritzten Zeichen zweier Fundstätten, darunter werden die einzelnen Zeichen oder Buchstaben zur Verdeutlichung wiederholt.
In zwei Fundstücken findet sich der Titel "König der Könige": Links ist der Titel in der Inschrift aus Tadschikistan zu sehen, rechts eine Version aus Afghanistan. Darunter werden die Buchstaben zur besseren Lesbarkeit wiederholt.
Bobomullo Bobomulloev, Collège de France, Natalie Korobzow

So wurde immer klarer, dass eine aramäische Silbenschrift vorlag. "Einzelne Zeichen bezeichnen Konsonanten, sie können anhand von kleinen Strichen oder Schnörkeln modifiziert werden", sagt Natalie Korobzow von der Uni Würzburg. Die aramäische Schrift wurde hier offenbar durch ein neues System dieser sogenannten diakritischen Zeichen abgewandelt. Gelesen wird sie von rechts nach links.

Auch konnte das Team endlich deutliche Rückschlüsse auf die Sprache ziehen, die so festgehalten wurde: Es dürfte sich um eine mitteliranische Sprache handeln, die die Forscherinnen und Forscher vorläufig als "eteo-tocharisch" bezeichnen. Bisher können sie etwa 60 Prozent der Schriftzeichen lesen, genauer: 15 Konsonanten, vier Vokale und zwei Arten zusammengezogener Zeichen, sogenannter Ligaturen. Sie arbeiten daran, die verbleibenden Zeichen ebenfalls zu entziffern. 

Forschungsreisen nach Zentralasien

Für Erstautorin Bonmann war die Entzifferung besonders ergreifend: Sie interessiert sich seit rund zehn Jahren für die rätselhafte Kuschana-Schrift. Ihre erste Bekanntschaft damit machte sie bei einer Ausstellung im Bergbaumuseum Bochum: Die in einschlägigen Kreisen bekannte Silberschale von Issyk weckte ihre Neugier. "Ich hatte mir damals geschworen, eines Tages würde ich diese Schrift lesen können", sagt die Linguistin. "Der erste Mensch zu sein, der seit 1900 Jahren diese Schrift lesen kann – das war ein unglaubliches Gefühl."

Künftig will das Forschungsteam nach Zentralasien reisen, es gibt nämlich bereits weitere potenzielle Fundstätten, die ihnen bei der weiteren Lösung des Rätsels helfen dürften. "Die Schrift diente wahrscheinlich dazu, die Muttersprache der Kuschana-Herrscherdynastie niederzuschreiben", vermutet Bonmann. Sie erwartet sich eine neue Grundlage, um die Sprach- und Kulturgeschichte Zentralasiens und des Kuschana-Reichs besser zu verstehen – "ähnlich wie es die Entschlüsselung der ägyptischen Hieroglyphen oder der Maya-Glyphen für unser Verständnis des alten Ägypten und der Maya-Zivilisation getan haben". (Julia Sica, 15.7.2023)

WNV // Rätselhafte „Kuschana-Schrift“ aus der Antike entziffert
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