Wiens ÖVP-Chef Karl Mahrer sorgt mit seinen Video-Aktionen regelmäßig für Empörung.
APA/EVA MANHART

Unsicherheitszonen, Kriminalitätshotspots und No-go-Areas in Wien, so weit das Auge reicht – diesen Eindruck könnte erhalten, wer Videobeiträge und Wortmeldungen von Wiens ÖVP-Chef Karl Mahrer verfolgt. Ob Brunnenmarkt in Ottakring, Josefstädter Straße an der U6-Station, Viktor-Adler-Markt in Favoriten oder Gumpendorfer Straße bei einer Suchthilfe-Einrichtung: Der ehemalige Spitzenpolizist Mahrer produziert und postet seit wenigen Monaten Videos von den angeblich gefährlichsten Hotspots der Bundeshauptstadt. Und sorgt damit für Empörung.

Nun hat der nicht-amtsführende Stadtrat offenbar ein neues "Problemgebiet" ausgemacht. Mahrer wurde am Donnerstag dabei beobachtet, wie er sich vor einem schlafenden Mann auf einer Parkbank auf der Mariahilfer Straße filmen ließ, während er die Exekutive rief. Auch ein Kameramann, der für einen mutmaßlich neuen ÖVP-Videoclip filmte, war vor Ort.

Die Aktion zufällig beobachtet hatte Silvio Heinze, Bezirksrat der Grünen in Wien Neubau. Dieser veröffentlichte am Donnerstag schließlich ein Foto der Szenerie auf Twitter und schrieb, gesehen zu haben, wie Mahrer einen "Skandal fabriziert". Mahrer habe sich dabei filmen lassen "wie er die Polizei ruft, weil ein Wiener auf einer Bank schläft und er ihn für nicht 'anschaulich' hält". Der Mann hatte laut Heinze "einen kurzen Mittagsschlaf gehalten".

Mahrer antwortete daraufhin auf Twitter, dass er auf der Mariahilfer Straße unterwegs gewesen sei, "nachdem uns mehrere Menschen auf eine Verschlechterung der Situation aufmerksam gemacht haben". Dabei sei ihm der schlafende Mann aufgefallen. "Ich bin daraufhin zu ihm gegangen und konnte sehen, dass eine Atmung vorhanden war – also keine Lebensgefahr bestanden hat." Daraufhin habe er "für eine weitere Prüfung des Sachverhalts (...) die Profis", nämlich die Polizei, kontaktiert.

Kontroversen um Vorgehen

Mahrer rechtfertigte sein Vorgehen am Freitag damit, dass der auf der Parkbank schlafende Mann bei den hohen Temperaturen, "so wie viele andere Wohnsitzlose auf der Mariahilfer Straße, einen eingeschränkten Eindruck gemacht hat, der dringend abgeklärt werden sollte". Daher habe er die Polizei kontaktiert. "Aus meiner beruflichen Erfahrung und auch aus dem Selbstverständnis von Zivilcourage ist bei der Abklärung von Problemen bei oftmals alkoholisierten Obdachlosen immer zuerst die Polizei zu verständigen", sagte der ÖVP-Politiker. Nur die Polizei sei geschult, die korrekten weiteren Schritte zu setzen. "Die Entscheidung, ob hier die Sozialhilfe, eine Obdachlosenunterkunft oder eine medizinische Betreuung notwendig wird, trifft die Polizei."

Auf STANDARD-Anfrage empfiehlt die Wiener Polizei hingegen, im Zweifelsfall oder bei Bedenken die betroffene schlafende Person selbst anzusprechen und nachzufragen. Allgemeine Zivilcourage sei "gut und wichtig". Sollte tatsächlich ein gesundheitlicher oder anders gearteter Notfall vorliegen, "ist dies natürlich ein Fall für den Notruf", heißt es in einer Stellungnahme. "Die Devise, besser einmal zu viel anzurufen als einmal zu wenig, ist jedenfalls zutreffend". Bei Amtshandlungen mit offensichtlich hilfsbedürftigen Personen informiere die Polizei, "dass die Gemeinde Wien Angebote der sozialen Betreuung insbesondere für Obdachlose hat". So würden Telefonnummern etwa des Fonds Soziales Wien ausgehändigt. Bei gesundheitlichen Notfällen sei "grundsätzlich 144 der richtige Notruf und Ansprechpartner", der Polizei obliege die erste allgemeine Hilfeleistung und Gefahrenerforschung, heißt es von einem Sprecher der Polizei.

Der Polizeieinsatz in der Mariahilfer Straße verlief nach Mahrers Anruf am Donnerstag jedenfalls unspektakulär. "Eine Funkwagenbesatzung wurde an den Einsatzort geschickt", schrieb die Landespolizeidirektion auf Twitter. "Der Einsatz war jedoch schnell beendet, da [sich, Anm.] der Mann nach einem kurzen Gespräch mit den Kolleg*innen von der Öffentlichkeit entfernte."

Auch die Wiener Berufsrettung rät, Betroffene zunächst direkt selbst anzusprechen, wenn man das Gefühl hat, dass der Zustand abgeklärt werden müsse. Sollte der Betroffene nicht reagieren und sich der Zustand bedrohlich verschlechtern, sei der Rettungs-Notruf 144 zu verständigen.

Am Freitag hat sich auch die Wiener Stadtregierung zu Wort gemeldet. Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) empfahl Mahrer, sich noch intensiver mit den Problemen wohnungsloser Menschen zu beschäftigen und sich "gleich nützlich" zu machen. Er lud den Wiener ÖVP-Chef ein, einen Tag lang in einer entsprechenden Betreuungseinrichtung ehrenamtlich tätig zu sein. "Das hilft sicher mehr, als die Polizei mit einem Mittagsschlaf zu beschäftigen", vermutete Hacker.

Spätberufener Polit-Quereinsteiger

Als Politiker ist Mahrer jedenfalls ein Spätberufener. Er galt zwar schon in seiner Zeit als Spitzenpolizist als bürgerlich und ÖVP-nah, konnte aber auch mit Vertretern der mächtigen Wiener SPÖ gut. Ambitionen, in die Politik zu wechseln, wies Mahrer regelmäßig zurück. 2017 wurde er vom damaligen ÖVP-Chef Sebastian Kurz aber als Quereinsteiger geholt – und zog für die Türkisen in den Nationalrat ein. Mahrer quittierte den Polizeidienst, blieb aber als Politiker seinem ersten Bildungsweg treu und kümmerte sich für die ÖVP um Sicherheitsbelange: 2019 wurde er Sicherheitssprecher der Partei – ehe er Ende 2021 nach dem Rückzug von Gernot Blümel aus allen politischen Ämtern im Zuge der Chat-Affäre die vakante Obmannrolle der ÖVP in Wien übernahm. Beim folgenden Parteitag im Mai 2022 wurde Mahrer mit 94 Prozent zum türkisen Landesparteichef gewählt.

Mahrers Manko war aber die fehlende Bekanntheit, die er zunächst auch als nicht amtsführender Wiener Stadtrat kaum steigern konnte. Erst in den vergangenen Monaten wurde Mahrer politisch aggressiver, er konzentrierte sich auf die selbst ernannten Wiener "No-go-Areas" und Hotspots. Auf Mahrer sei parteiintern lange Druck ausgeübt worden, erzählt jemand aus der Wiener ÖVP hinter vorgehaltener Hand. Das Mitte-rechts-Lager der ÖVP Wien sei ihm ständig im Ohr gelegen, er möge prononcierter sein, einen Mitte-rechts-Kurs mit deutlichem Rechtsdrall einschlagen, Kante zeigen. Irgendwann sei Mahrer eingeschwenkt, habe dem Druck nachgegeben.

Beraten wird der Wiener Parteichef derzeit übrigens vom einstigen Kurz-Intimus Stefan Steiner. Für die neue Strategie mit den Mahrer-Videos von Brunnenmarkt, Viktor-Adler-Markt, Gürtel und Co zeichnet nach Eigenangaben aber Peter Sverak verantwortlich. Er war Kommunikationschef der Wiener ÖVP und ist mittlerweile zum türkisen Parteimanager aufgestiegen.

Zufrieden seien viele, die eine Kurskorrektur gefordert hatten, aber weiterhin nicht. "Er macht es nicht besonders geschickt", sagt ein ÖVP-Politiker zum STANDARD. "Er versucht, den Harten zu geben, aber es fehlt uns an inhaltlicher Tiefe", befindet er selbstkritisch. Selbst im Mitte-rechts-Lager der türkisen Landesgruppe würden Videos wie jenes vom Wiener Brunnenmarkt nicht bei allen gut ankommen. Es würden "die Falschen" an den Pranger gestellt, lautet die Kritik. "Die Standler dort zahlen ja immerhin Steuern. Die sind ja gar nicht das Problem."

Karl Mahrer (rechts) gemeinsam mit Innenminister Gerhard Karner (Mitte), dem Nationalratsabgeordneten Nico Marchetti (alle ÖVP) und Polizisten am Keplerplatz in Wien-Favoriten.
BMI/Schober

Streifenpolizist in Ottakring

Aufgrund seiner beruflichen Vergangenheit ist die Straße für Mahrer kein unbekanntes Terrain. Nach der Grundausbildung bei der Polizei war er ab 1976 einige Jahre als junger Streifenpolizist vor allem in Wien-Ottakring unterwegs, bevor er 1981 den Grundausbildungslehrgang zum dienstführenden Beamten absolvierte. In den Kriminaldienst zog es ihn allerdings nie, bei der Aufklärung von spektakulären Kriminalfällen war er also nie als Ermittler "an der Front" tätig.

Stattdessen trieb Karl Mahrer seine Karriere bei der uniformierten Sicherheitswache, die es seit der Polizeireform in den frühen 2000er-Jahren so nicht mehr gibt, voran. Nahezu die gesamten 1990er-Jahre war er Kommandant der Sicherheitswache im noblen Hietzing. Dort war der Polizist sehr beliebt, weil er am gesellschaftlichen Leben teilnahm, stets ein offenes Ohr für die Bevölkerung und auch einen guten Draht zu den Medien hatte. Vor allem Letzteres blieb der Polizeidirektion am Schottenring nicht verborgen. Mahrer durfte sich über die Bezirksgrenzen hinaus als das Good-News-Gesicht der Polizei etablieren. Er forcierte Grätzelpolizisten, die engen Kontakt mit der Bevölkerung halten sollten, und holte sich aus den USA die Idee für "Community-Policing".

Aufstiegschancen blieben begrenzt

Zur Jahrtausendwende schaffte er den Sprung in die Polizeidirektion, doch als ÖVP-Mann waren seine Aufstiegschancen trotz Machtverschiebung im Bund zu Schwarz-Blau in der roten Wiener Polizei begrenzt. Er schaffte es 2002 zum stellvertretenden Generalinspektor und Leiter der Personalabteilung. Sein Parteikollege Ernst Strasser rührte als Innenminister mit seiner Polizeireform auch im Gefüge der Wiener Polizei kräftig um, doch Mahrer blieb wieder nur ein Vize-Posten, hinter dem damaligen Landespolizeikommandanten Roland Horngacher. Erst als dieser nach schweren Amtsmissbrauchsvorwürfen 2006 seines Amtes enthoben wurde, konnte Mahrer im Chefsessel Platz nehmen – zuerst interimistisch und ab 2009 auch offiziell. Polizeipräsident wurde 2012 aber dann doch wieder jemand aus dem SPÖ-Lager, nämlich Gerhard Pürstl. Für Mahrer blieb wieder nur der Stellvertreter.

Man darf jedenfalls gespannt sein, an welchem angeblichen "Brennpunkt" der heutige Politiker Karl Mahrer als Nächstes samt Kameramann und Fotografen aufschlagen wird. (David Krutzler, Katharina Mittelstaedt, Sandra Schieder, Michael Simoner, 14.7.2023)