Jo Angerer aus Moskau

In Russlands Armee brodelt es. Erst die Wagner-Rebellion. Fast ungehindert durften Jewgeni Prigoschins Söldner in offener Marschkolonne Richtung Moskau ziehen. Und jetzt Kritik, Machtkämpfe innerhalb des Militärs, alles mehr oder minder öffentlich ausgetragen auf diversen Telegram-Kanälen. Seit den ukrainischen Angriffen in der Grenzregion Belgorod hat das Vertrauen der Russinnen und Russen in ihre Armee Risse bekommen. Jetzt halten fast die Hälfte aller Russen Prigoschins Kritik an der Armeeführung für berechtigt. Für Russlands Präsidenten Wladimir Putin besteht Handlungsbedarf.

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Verteidigungsminister Sergej Schoigu (links) und Generalstabschef Waleri Gerassimow stehen unter Druck.
AP/Gavriil Grigorov

Jüngstes Beispiel: Die Entlassung von Iwan Popow, dem Oberbefehlshaber der im Süden der Ukraine stationierten 58. russischen Armee, die bei Saporischschja kämpft. In einer Sprachnachricht bestätigte er: Er sei wegen seiner Kritik an der ineffizienten Kriegsführung seines Postens enthoben worden. Kontrovers diskutiert wird auch, ob Popows Sprachnachricht überhaupt für die Öffentlichkeit bestimmt war und wie sie dorthin gelangte.

Keine "Show" machen

Veröffentlicht wurde sie auf dem Telegram-Kanal des Duma-Abgeordneten Andrej Guruljow, eines früheren Armeekommandeurs, der gern auch im Staatsfernsehen auftritt. Guruljow handelte sich für die Veröffentlichung Kritik von der Kreml-Partei Geeintes Russland ein. Man warnte davor, eine "Show" aus dem Fall zu machen.

Dagegen meint Andrei Kartapolow, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses in der Duma, die Militärführung müsse die angesprochenen Probleme lösen. Es sei Aufgabe jedes Chefs, Probleme zu erkennen und seinen Untergebenen zuzuhören. "Deshalb glaube ich, dass das gehört und gesehen wurde und nun Maßnahmen ergriffen werden von denen, die dafür zuständig sind", sagte Kartapolow mit Blick auf das Verteidigungsministerium. Dieses äußerte sich selbst nicht dazu.

Wenige Tage nach seiner Rebellion trafen sich Jewgeni Prigoschin und seine Wagner-Kommandeure zur Überraschung vieler mit Putin. Über den Inhalt des Gesprächs wurde zunächst wenig bekannt. Doch jetzt veröffentlichte die Zeitung "Kommersant" Details. Auf Journalistenfragen während einer Pressekonferenz, ob Wagner als Kampfeinheit weitergeführt wird, habe Putin geantwortet, dass rein rechtlich gesehen die Söldnergruppe Wagner nicht existiere. Wagner-Chef Prigoschin habe die Eingliederung seiner Kämpfer in die russischen Streitkräfte abgelehnt.

Prigoschins Nein

Putin sagte laut "Kommersant": "Sie hätten sich alle an einem Ort versammeln und ihren Dienst fortsetzen können, und nichts hätte sich geändert." Viele der Wagner-Kämpfer hätten zustimmend genickt. Prigoschin hingegen habe geantwortet: "Nein, die Jungs werden mit einer solchen Entscheidung nicht einverstanden sein." Von Prigoschin selbst gibt es bislang keine Stellungnahme zu dem Treffen mit Putin.

Die Entlassung und Kritik Popows sowie die Frage nach der Zukunft der Wagner-Söldner fügen sich in das Bild, das Militärexperten von der russischen Armee zeichnen. Demnach herrscht in großen Teilen der russischen Streitkräfte Unzufriedenheit mit der eigenen Militärführung. Angeblich wackelt auch der Posten von Generalstabschef Waleri Gerassimow.

Unterdessen berichtet das "Wall Street Journal", nach der Wagner-Rebellion seien mindestens 13 hochrangige russische Offiziere festgenommen und verhört worden. Die Verhaftungen erfolgten, um "die Reihen aufzuräumen", sagte eine der Quellen der Zeitung. Eine Bestätigung dafür gibt es nicht.

Wo ist Surowikin?

Nach wie vor unklar ist das Schicksal des Prigoschin-Vertrauten Sergej Surowikin, Gerassimows Stellvertreter als Kommandant des Militäreinsatzes in der Ukraine. Er ist verschwunden, wird in der Öffentlichkeit von seinem Vize vertreten.

Vor der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr steht Russlands Präsident Wladimir Putin zunehmend unter Druck. Seine Zustimmungswerte sind zwar nach wie vor hoch, doch er muss Stärke zeigen. Ein kurzes Bad in der Menschenmenge, wie vor kurzem bei seinem Blitzbesuch in Dagestan, genügt da nicht. Militärische Erfolge in der Ukraine müssen her. (Jo Angerer aus Moskau, 14.7.2023)