Michael Krüger ist Poeta Lauretus 2023.
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Das erste Gedicht

Jetzt, in der beginnenden Schmelze,
kommen die Ameisenhaufen wieder ans Licht,
die bautechnischen Glanzleistungen, unversehrt
bis auf die Kratzspuren von Füchsen und Wölfen.
Von Ameisen ist nichts mehr zu sehen.
Jetzt sehnt man sich nach den kräftigen Engeln,
die Ordnung schaffen, wie sie einst die vier Ecken
des Universums beschwerten, dass es nicht wegfliegt.
Engel haben keine knöcherne Hirnschale,
kein gekammertes Lager für die Erinnerungen,
sie haben keinen Sinn für die unendlichen Lesarten
des Krieges wie wir. Sie räumen nur schweigend auf,
ohne Angst, sich zu verletzen. Sie fürchten allein Gottes
Zorn, der uns nicht mehr anweht. Aber wir sind noch
am Leben, wir freuen uns, wenn die Sonne aufgeht
über dem Bergkamm, wir nehmen staunend wahr,
mit welcher Sorgfalt der Fluss die Steine sortiert
nach Gewicht und Größe, wir sehen das helle Licht
auf dem vom Wind gekämmten Moos des Hanges,
und gewiss hoffen wir, dass alles, was hinter uns liegt,
nur die Dämmerung des Tagesanbruchs war,
wie die Dichter sagen. Gibt es ein anderes Wort für Revanche,
das auch der Feind nicht missverstehen kann?
Was fehlt, sind die freundlichen Worte
für mehr als für Trost und für Zuversicht und Versprechen,
weil die Bücher, die sie enthalten, beschlossen haben,
nur noch sich selber zu lesen. Wir, die käuflichen Menschen,
hinterlassen in der Zeit, die wir haben, eine Spur des Abfalls,
die wir, mit gemischten Gefühlen, Schönheit nennen.

Das zweite Gedicht

Noch hält die geschlossene Schneedecke über dem See,
doch sind ihre Tage gezählt. Ein paar kleine Vögel hüpfen
herum, die nicht wissen, ob der Schatten, der sie streift,
dem Bussard gehört oder dem Habicht im Aufwind.
Ich kann nicht entziffern, was sie schreiben, aber es ist
eine Schrift, etwas Babylonisches oder gar ein Psalm
in hebräischer Sprache, nur von oben zu lesen, nicht
vom Rand, wo ich stehe. Ich muss mich begnügen
mit der Übersetzung in den rohen Dialekt der Krähen:
Der Krieg ist nur als Erzählung verständlich.
Aber was ist zu verstehen? Wie überzeugend klingt alles,
wenn man kaum etwas weiß. Was wäre aus den Toten
geworden? Aus den Kindern der Toten? Früher, in den Ländern
des Abends und der Mitternacht, hieß es, man solle
das Wasser aus dem Brunnen schöpfen mit einem Sieb;
das sei angemessen, denn das Selbstverständliche
bleibt das Rätsel. Nun versperrt ein größerer Schatten
die bedürftige Sonne, es wird Zeit, ein Haus aufzusuchen,
in dem ein Krug auf dem Tisch steht, an dem ein Tropfen
hinabgleitet, unnütz und schön. Die Koffer sind gepackt,
gefüllt mit Demut und den vielen frommen Wünschen,
aus denen eine Vergangenheit besteht.
Und das Notizbuch mit den Aufzeichnungen zur Enzyklopädie
des Regens, Blatt für Blatt voller übermütiger Worte?
Vor der Tür bellt ein Hund, die ganze Nacht, dann erbarmt
sich ein Wind und trägt das Bellen so lange um die Welt,
bis es verstanden wird in allen Einsamkeiten.

Das dritte Gedicht

Im alten Russland saßen die Bojaren auf Misthaufen
gleichwie Hiob und sagten: Das ist mein Kaisertum.
Sie waren kundig in der Rede, aber unkundig im Herzen,
daran hat sich nichts geändert. Die Luft damals
war voller Mythen, dunkel war der Mond und die Sterne
waren tief verstört, und der Kummer fand nicht mehr heim.
In den Wäldern wurden Worte gesammelt, die der Seele
nützlich waren, sie wurden getrocknet und mit Wasser
aufgebrüht. Nachts gingen Wölfe durchs Dorf,
die zeigten kein Mitleid gegen die Schafe.
In einer Erdhöhle lebten Mönche, die tranken das Wasser
vom Fluss und bewegten die nie lügenden Lippen
im Gebet, bis die heiligen Sätze müde waren und zur Erde
fielen, wo augenblicklich Erdbeben stattfanden
und anderntags Hungersnöte durchs Land zogen,
dass sich der Frieden verkroch. Man betete weiter zu Gott,
denn man wusste zu wenig von ihm, um ihn verleugnen
zu können. Wortkarg waren die Alten geworden,
ihre frommen Augen trübten sich ein, und weil sie nichts
mehr besaßen, vererbten sie Bosheit und Hass.
Wir haben uns nicht danach gedrängt, die Hüter der Erde
zu sein, wir wissen nicht einmal mehr, wie man das Knie beugt
und die Füße wäscht, und selbst das Blut am Messer
lassen wir trocknen. Solange es geht, überwachen wir
das Ziehen der Wolken, sie ziehen unaufhörlich nach Westen,
das verheißt nichts Gutes. Denn heute haben sie unser Land
genommen, aber morgen kommen sie, eures zu erobern.

Das vierte Gedicht

Es ist warm geworden und länger hell, da sieht man auf den Fotos
die Toten besser in der grün aufblühenden Landschaft. Einer liegt da
wie vom Kreuz gefallen nach langer Folter, die Hände im Schlamm.
Schwer ist zu verstehen, wie in diesem verkrampften Körper
alles enthalten sein soll, die ganze Geschichte der Menschheit,
der Schrei und das Schweigen und der Dämon der Wahrheit,
und schließlich die trübe Gewissheit, dass einer mehr ist als ein Stück Fleisch mit aufgerissenen
Augen,in denen der Schuss noch nachhallt.
Sie konnten den Tod nicht aufhalten. Das Blut verbreitet sich
auf dem Boden wie Tinte auf Löschpapier, es berührt schon
die Kletten, Disteln und die unerschütterlichen Schlehen im Hintergrund.
Gott ist 1941 zurückgetreten, das ist die unsichtbare Schlagzeile,
die immer mitläuft. Den Platz will einer besetzen im blauen Anzug
und Krawatte, gesegnet von einem waschechten Patriarchen
mit sauberen Händen, der viel Blut braucht, um die Kelche
des Imperiums zu füllen. Ein anderer lässt sich eine Krone
auf den schon lichten Haarkranz drücken, deren Edelsteine
mit schwarzem Schweiß poliert sind, war zu der Zeit,
als die Schönheit noch vom Volk gewählt wurde.
Am Morgen lag ein toter Vogel auf dem Balkon, den hatte die Katze
ausgenommen nach Strich und Faden. Ich legte den Rest sanft
in die Zeitung mit dem Bild des toten Soldaten, stieg
über der Lumpenmann, der seit Tagen im Eingang sitzt
in seiner Kathedrale aus Elend, Auswurf und zähem Schmutz
und lautstark das Ende der Welt ankündigt, ein Metaphysiker
des Unrats, den ich jeden Tag reich beschenke, wechselte
die Straßenseite und übergab mein fragiles Päckchen
einer der leuchtenden Plastikboxen, die für die Reinheit der Stadt
zuständig sind. Ja, das gibt es auch: Behälter für die Reinheit
der Welt, in der wir leben oder die wir sind.

Das fünfte Gedicht

Wir haben Bäume gepflanzt, Äpfel, alte Sorten,
die angeblich in Russland und im Kaukasus entstanden
und im Westen kultiviert wurden, von den Römern eingeschleppt und im ganzen
Heiligen Römischen Reich deutscher Nation wegen ihrer Säure
geliebt. Äpfel mit Geschichte, die rot werden auf der Sonnenseite.
Wir mussten einen Sack um die Wurzeln schlagen,
um die Maulwürfe, die sich seit Plinius blind auf alles stürzen,
was ihnen im Wege steht, auf Distanz zu halten, und um den Stamm
haben wir eine Manschette gelegt, damit die Rehe den Baum
in Ruhe wachsen lassen. Wenn alles gut geht … werden wir
in fünf Jahren die ersten Äpfel ernten können. Die Vergangenheit
träumte von Ewigkeiten, wir hoffen darauf, einem Äpfelchen
beim Werden zusehen zu dürfen. Die Amseln freuen sich
über den Zuwachs von Grün, sie sausen wie dunkle Drohnen
über die mit Löwenzahn dekorierte Wiese. Bald werden Flugschirme
aufsteigen, dann ist die Zukunft erreicht. Es ist beruhigend,
vor den mickrigen Bäumen zu stehen, man stellt sich vor,
was aus ihnen werden kann, wenn der Ahorn ihnen nicht das Wasser
abgräbt. Jedes Blatt ist eine gewaltige Enzyklopädie, der Stamm
allein füllt Bände, die in einem Leben nicht auszulesen sind.
Dazu kommen die Bilder, auf denen die Toten lebendig werden,
die genau hier begraben sind oder verscharrt wurden.
Eine Spinne hat einen ersten Faden gespannt zwischen den Bäumen,
eine zitternde Brücke, so fein, dass sie keiner betritt:
kein Gedanke, kein Vogel, nicht einmal der Tod, der nicht aufhört
zu schwärmen von seinen großen Erfolgen. Unter der Brücke
wachsen die Gänseblümchen und die kleinen blauen Blumen,
die so aussehen wie Veilchen, aber schon lange keine Veilchen
mehr sind. Ein Bild geht mir nicht aus dem Kopf: die alten Generäle,
am 8.Mai auf dem Roten Platz, mit tausend Orden an ihre Stühle gekettet,
lederne Mumien, die dafür gesorgt haben, dass ich noch auf der Welt bin.
Boskop heißen die Äpfel, Boskop, ein schönerer Name war nicht drin. (Michael Krüger, 16.7.2023)