Daniela Prugger aus Kiew

Das Studium sollte eine schöne Zeit sein im Leben. Eine Zeit, in der man sich findet, Pläne für die Zukunft schmiedet, Freunde kennenlernt, vielleicht Dummheiten anstellt. Doch die Leichtigkeit endet bereits am Eingang der Nationalen Technischen Universität (KPI), einer der renommiertesten Universitäten des Landes. Auf einer Gedenktafel wird mit schwarz-weißen Fotos der Studierenden, Lehrenden und Alumni gedacht, die seit dem 24. Februar 2022 gefallen sind. Mindestens 33 sind es laut KPI; ein Student gilt als vermisst, irgendwo an der Front, die sich mittlerweile hunderte Kilometer von Kiew entfernt befindet.

Schautafel mit den Gefallenen Mitarbeitern und Studenten der Universität
Die Nationale Technische Universität in Kiew trauert um ihre Gefallenen.
Daniela Prugger

"Wir waren alle naiv", sagt Andrej M., er studiert am KPI im Master Ingenieurwesen. "Die meisten hier glaubten nicht daran, dass Russland angreifen würde." Der 23-Jährige sitzt mit Energydrink und Rucksack auf einer Bank auf dem Gelände der Einrichtung. Im Park daneben sitzen Studierende in Gruppen unter den hohen Kastanienbäumen. An den Betonmauern entlang des Fußwegs zum Hauptgebäude erinnern Malereien und Graffiti an die Studienfächer: Mathematik, IT, auch eine militärische Ausbildung kann man hier absolvieren.

An dem Morgen, als der Krieg begann, war Andrej hier am Campus, wo er als einer von 6.000 Studierenden lebt. Damals, im Februar 2022, fand sein Unterricht Corona-bedingt noch immer online statt, und die größte Problemstellung für den Studenten war eine sehr praktische: die LED-Leuchte, die beim Anschrauben immer wieder abfiel. Fast eineinhalb Jahre später ist sein Leben ein anderes. Er sagt, dass er mehr auf seine Gesundheit achte, er habe abgenommen, mache mehr Sport. "Ich halte mich fit. Aber ich bin kein Kämpfer. Ich will mich auf mein Studium konzentrieren", sagt er. Soweit das eben möglich ist.

"Ich kann das nicht: jemanden töten"

Der Krieg hatte seine Heimatstadt Mykolajiw im Süden des Landes in den vergangenen Monaten fest im Griff, die massiven russischen Angriffe lassen noch immer nicht nach. Als im April des Vorjahres eine Rakete in der Nähe des Wohnhauses der Familie einschlug, wurde auch das Fenster und der Balkon der Familienwohnung beschädigt. Andrej reparierte es später mit Geld, das er für seine Zukunft gespart hatte. Sein Bruder und Vater sind mittlerweile an der Front, und der Kontakt zu ihnen ist nicht immer möglich. "Ich bin stolz auf sie", sagt er. Doch selbst will er nicht kämpfen. "Ich kann das nicht: jemanden töten." Auch anderen Männern im Land geht es so wie Andrej.

Doch darüber zu sprechen fällt vielen schwer. In den meisten Fällen erhalten Reporter die Antwort: "Wenn ich muss, dann werde ich kämpfen." Andrej muss nicht: Denn Studierende und das Lehrpersonal werden in der Ukraine nicht mobilisiert, sie waren bereits vor der russischen Invasion am 24. Februar 2022 von der Wehrpflicht ausgenommen.

"Für viele Männer ist das Studium deshalb zu einem Lifehack geworden", sagt Journalistin Kateryna Rodak vom Investigativmedium "Nashi Groshi" in Lwiw. Im Zuge einer Recherche trug das Team die landesweiten Daten zur Anzahl und dem Geschlecht der Studierenden zusammen und stellte überraschend fest, dass es in der Ukraine im Vergleich zum Vorjahr im Studienjahr 2022/23 82 Prozent mehr männliche Studierende gibt. Das Durchschnittsalter jener, die sich neu an den Unis einschrieben, liegt bei Mitte dreißig. "Wir haben uns natürlich gefragt, warum das so ist", sagt Rodak. "Die naheliegende Antwort ist, dass viele auf diesem legalen Weg einer Mobilisierung entkommen wollen."

"Wir leben in einer unberechenbaren Zeit"

Die Journalistin suchte nach Interviewpartnern – ein schwieriges Unterfangen. Wenn sich die Männer bereiterklärten, mit ihr zu sprechen, dann nur vollständig anonymisiert, ohne Namen, ohne Bild. "Viele gaben zu, dass sie kein Interesse an einem Studium haben, sondern das Minimum leisten, um nicht von den Unis zu fliegen", erklärt Rodak. Ein Umstand, der in Friedenszeiten wohl kaum der Rede wert wäre. Doch die Ukraine befindet sich im Ausnahmezustand. Rodak: "Die Männer, mit denen wir sprachen, wollen so wie die Frauen leben. Sie haben Angst vor dem Sterben und vor der Front. Und sie haben Angst, für all das verurteilt zu werden."

Für das Interview wählt ein Student, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, den Vornamen Mischa. Er ist Mitte zwanzig, studiert Literatur und möchte irgendwann vielleicht als Übersetzer arbeiten. "Wir leben in einer unberechenbaren Zeit. Die Militäradministration ist zuständig für die Mobilisierung und patrouilliert an vielen Orten. Deswegen sind viele von uns vorsichtig und haben Angst, dass vielleicht später rauskommt, wie wir uns geäußert haben", antwortet er auf die Frage, warum er nicht mit seinem Klarnamen zitiert werden will.

Zwischen Studium und Krieg: Wandmalereien an der KPI in Kiew.
Daniela Prugger

Mischa entschied sich aus zwei Gründen für den Master: Er will, dass die russischen Angreifer es nicht schaffen, das Leben und den Lebensstil in seinem Land vollkommen zu untergraben. Dass selbst in solchen Zeiten der Gewalt noch immer gelernt wird, und sich die Menschen nicht in den Kellern verstecken. Der zweite Grund ist die Mobilisierung. Er hat Angst, dass es irgendwann auch ihn trifft. "Ich spüre keinen generellen Druck der Gesellschaft, dass Männer wie ich kämpfen sollen", sagt er. "Aber es gibt sie: jene, die meinen, dass alle Männer das Land vor den Russen schützen sollen." Besonders laut sind diese Stimmen, die Beschimpfungen, die Diffamierungen online.

Futter für die russische Propaganda

Dass wütende Kommentare und Anrufe auch auf die Recherche folgen würden, davon war auszugehen, sagt Journalistin Kateryna Rodak von "Nashi Groshi". "Viele haben sich bei uns beschwert und gefragt, warum wir über dieses Thema berichten, weil sie der Meinung sind, dass wir nur über das Positive in unserem Land schreiben sollen. Die Moral, die große Bereitschaft zu kämpfen." Ein Argument, das Investigativjournalisten wie Rodak derzeit immer wieder von Kritikern hören, auch wenn sie über Korruption und innenpolitische Skandale berichten, ist, dass die Berichterstattung der russischen Propaganda in die Hände spiele. Dass nun nicht die Zeit für diese Fragen und Recherchen sei, erst nach dem Krieg. "Aber so funktioniert es in einer demokratischen Gesellschaft nicht", sagt sie. "Leider nutzen auch viele Beamte den Krieg, um Informationen zu verbergen, wenn wir Anfragen stellen."

Dabei sei es wichtig, eine Bestandsaufnahme zu machen, zu verstehen, in welcher Situation sich die Menschen befinden und wie die Stimmung wirklich ist: Die Unterstützung für die Regierung ist noch immer hoch, das zeigten Umfragen wiederholt. Der Großteil der Bevölkerung will mit Russland nichts mehr zu tun haben. Zwar gelang es der Ukraine mit westlicher Hilfe, mindestens ein Dutzend neue Kampfbrigaden für die Gegenoffensive zusammenzustellen, doch sie muss in Zuge derer mit Verlusten rechnen, wie das bereits in Charkiw und Cherson der Fall war. Für diejenigen, die seit Kriegsbeginn kämpfen, ist noch immer keine Pause in Sicht. Und für jene Männer, die nicht das Privileg oder die Mittel haben, sich an einer Hochschule einschreiben zu können, steigt das Risiko, in den Krieg eingezogen zu werden, mit jedem weiteren Tag, den der Krieg andauert.

"Derzeit melden sich bei uns fünf bis zehn Prozent freiwillig", sagt Oberst Jurij Burliay, der Leiter des Einberufungszentrums im Kiewer Vorort Browary. Vor dem Eingang steht ein bewaffneter Soldat hinter einem Tarnnetz und einem Schutzwall aus Sandsäcken, wie man sie an den meisten militärischen Checkpoints zu sehen sind. Burliay bittet in sein Büro, wo sich die Einberufungsbescheide stapeln. Er teilt die männliche Bevölkerung in der Ukraine derzeit in drei Kategorien ein: jene, die in den ersten Kriegstagen und Wochen freiwillig zu den Einberufungsämtern kamen und zur Waffe griffen, diejenigen, die nicht kämpfen wollten, aber trotzdem an die Front gingen, nachdem sie mobilisiert wurden, sowie diejenigen, die nicht in den Krieg ziehen wollen und nach verschiedenen Möglichkeiten suchen, einer Mobilisierung zu entkommen.

Zusätzliche Tests am KPI

Oberst Burliay weiß, dass viele nach Wegen suchen, um die Mobilisierung zu umgehen, auch auf legale Weise. "Vielleicht wirkt sich das ja positiv auf das Bildungsniveau in der Bevölkerung aus, aber wir wissen auch, dass nicht alle nur um des Wissens Willen studieren", so Burliay. "Es ist eine Tatsache, dass diejenigen, die tagein, tagaus ihr Leben an der Front riskieren, nicht gut zu sprechen sind auf die anderen, die sich vor der Mobilisierung verstecken. Mit Sicherheit wird es nach dem Krieg Spannungen zwischen diesen beiden Gruppen geben."

Doch der Kampf gegen die russische Invasion findet nicht nur auf dem Schlachtfeld statt, sagt Oleksii Zhuchenko, Prorektor des KPI in Kiew. Zhuchenko, 39, blauer Anzug, frisch rasiert, betont, dass seine Studierenden einen wichtigen Beitrag im Krieg leisten. "Unsere Ingenieure und Wissenschafter der Universität nehmen aktiv an der Entwicklung verschiedener Verteidigungstechnologien teil" so der Prorektor. Nach dem Ende des Krieges werde man offenlegen, wie genau. Auf dem Schreibtisch vor sich hat Zhuchenko ein Blatt Papier mit Balkendiagrammen liegen. An seiner Universität ist der Anteil an männlichen Studierenden in den vergangenen Jahren ungefähr gleichgeblieben.

Prorektor Oleksii Zhuchenko: "Wir hatten Glück im Unglück."
Daniela Prugger

Insgesamt zählt das KPI 25.000 Studierende, davon leben zwölf Prozent kriegsbedingt im Ausland und studieren online. Knapp 70 Prozent der Studierenden sind männlich, ähnlich wie in den Jahren zuvor. Das liege auch daran, dass das Hauptaugenmerk des KPI auf Ingenieurwesen und IT liegt – zwei Schlüsselindustrien, die in der Ukraine traditionell eher männliche Studierende anziehen. "Wir haben sogar zusätzliche Tests eingeführt, um jene zu filtern, die nur aufgrund der Gefahr einer Mobilisierung studieren wollen", so der Prorektor. "Ich urteile darüber nicht, aber ich kann das auch nicht gutheißen."

Glück im Unglück

Die Universität und der Prorektor haben an diesen Tagen andere Probleme, sagt er und führt durch die sonnendurchfluteten Gänge der Universität am Portier und der Gedenktafel hinaus auf das Parkgelände, wo der zerstörte Rasen und einige abgebrannte Äste davon zeugen, was vor wenigen Wochen geschah, als Kiew einmal mehr von Russland mit Drohnen und Raketen angegriffen wurde. Laut der ukrainischen Armee gelang es der Luftverteidigung in den vergangenen Wochen zwar, die meisten Raketen und Drohnen über Kiew abzufangen. Doch die Trümmer fallen dabei regelmäßig auf Häuser, Autos oder – in diesem Fall – das Parkgelände des KPI.

"Wir hatten Glück im Unglück", sagt Zhuchenko. Er muss an die vielen anderen Bildungseinrichtungen im Land denken. Laut einer Studie des ukrainischen Bildungsministeriums und der Vereinten Nationen hat der Krieg in der gesamten Ukraine Schäden in Höhe von mindestens 4,4 Milliarden US-Dollar (knall 4 Mrd. Euro) an Bildungseinrichtungen verursacht. Im ersten Kriegsjahr bis zum 24. Februar 2023 wurden mindestens 2.772 Einrichtungen teilweise beschädigt und 454 zerstört – das entspricht etwa zehn Prozent.

"Ich habe wenig geschlafen in den vergangenen Wochen", sagt Student Andrej, der wie die meisten Bewohner der Stadt eine Zeitlang beinahe täglich von Explosionen geweckt wurde. "So etwas hatten wir in Kiew schon lange nicht mehr." Obwohl sich die Front mittlerweile weit entfernt befindet, könne man dem Krieg auch in der Hauptstadt nicht entkommen, weshalb jeder seinen Beitrag leisten müsse. "Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der kämpfen muss", sagt Andrej. "Wir anderen müssen sie dabei unterstützen."

Er selbst spendet Blutplasma, alle zwei Wochen, für die verletzten Soldaten. Andrej sagt, dass er keinen gesellschaftlichen Druck verspürt zu kämpfen – im Gegenteil, seine Eltern wollen, dass er fertigstudiert. Sein Traum ist es, am KPI zu unterrichten. Deshalb will er nach dem Master noch einen PHD dranhängen. Und wenn er doch muss, dann wird er eben kämpfen, sagt Andrej – so wie die meisten, die man fragt. (Daniela Prugger, 16.7.2023)