Sebastian Borger aus London

Im Nachhinein wirkt das Benehmen des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace auf dem Nato-Gipfel vergangene Woche wie der Aufschrei einer gequälten Kreatur. Die Ukraine müsse gelegentlich auch einmal ein wenig Dankbarkeit zeigen, antwortete der frühere Hauptmann der schottischen Garde barsch auf Präsident Wolodymyr Selenskyjs Kritik am westlichen Bündnis, "schließlich sind wir nicht Amazon" – anders als der US-Versandgigant könne der Westen nun mal nicht jeden Wunsch Kiews umgehend erfüllen. Mittlerweile hat er seinen umstrittenen Kommentar mit einem - in ukrainisch gehaltenen - Tweet eingeordnet. Doch am Sonntag schmiss der Konservative öffentlich hin: Spätestens im Herbst werde er das Londoner Kabinett, bei der nächsten Wahl auch die Politik verlassen.

Das Rencontre von Vilnius gehört zu einer Reihe von Frustrationen, die der nach Einschätzung von Fachleuten beste Verteidigungsminister der vergangenen zwei Jahrzehnte und standhafte Unterstützer der Ukraine in jüngster Zeit erlitten hat. Vergangenen Monat machte er im Wirtschaftsmagazin "Economist" öffentlich, was in London die Spatzen von den Dächern pfiffen: Gern wäre Wallace dem norwegischen Amtsinhaber Jens Stoltenberg auf den Posten des Nato-Generalsekretärs nachgefolgt.

Wenig Chance auf Nato-Posten

Doch dem diskreten Werben seines Premierminister Rishi Sunak war kein Erfolg beschieden. Offiziell wird als Grund der verbreitete Wunsch nach einer Regierungschefin, jedenfalls einer Frau im wichtigsten zivilen Amt des Bündnisses genannt. Londoner Gerüchten zufolge hat US-Präsident Joe Biden konkret die derzeitige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Auge. Gewiss dürfte aber auch die anhaltende Skepsis gegenüber der Brexit-Insel eine Rolle spielen. Wallace hatte 2016 zwar für den EU-Verbleib gestimmt, profilierte sich anschließend aber als einer der wichtigsten Gefolgsleute des Brexit-Marktschreiers Boris Johnson.

Großbritannien Wallace Rückzug
Beim Nato-Gipfel ließ Wallace (rechts) gehörig aufhorchen. Premier Sunak kommt sein Rückzug nun nicht ganz gelegen.
IMAGO/Sipa USA

Am Freitag dürfte sich Wallace, drittens, auch noch über Sunak geärgert haben: Dessen PR-Leute hatten der "Times" zugeraunt, was der Minister seinem Chef bereits vor vier Wochen im Vertrauen mitgeteilt hatte: Bei der nächsten, wohl für September geplanten Kabinettsumbildung wolle er die Regierung verlassen, auch bei der nächsten Wahl nicht mehr antreten. Genervt von der Indiskretion der Downing Street gab Wallace dem Schwesterblatt "Sunday Times" ein ausführliches Interview und bestätigte seine bevorstehende Demission.

Krachende Niederlage erwartet

Zwar beteuert der Minister loyal, die Regierung könne "die nächste Wahl gewinnen". Vier Tage vor drei schwierigen Nachwahlen kommt die Nachricht vom Rückzug einer der populärsten konservativen Politiker für Premier Sunak aber dennoch denkbar ungelegen. Vier Dutzend seiner Abgeordneten, darunter andere Prominente wie Ex-Minister Dominic Raab und Chloe Smith oder die gerade 29-jährige Nachwuchshoffnung Dehenna Davison, wollen zur spätestens im Herbst 2024 anstehenden Unterhauswahl nicht mehr antreten. Der Grund liegt auf der Hand: Allen Umfragen zufolge erwartet die Torys nach dann vierzehn Amtsjahren eine krachende Niederlage.

In Wallaces Fall kommt ein weiterer Faktor hinzu: Weil sein nordenglischer Wahlkreis Wyre aufgelöst wird, hätte er sich längst anderswo umschauen müssen. Doch nach vier Jahren im schottischen Parlament und 18 Jahren im Unterhaus gehe seine Zeit in der Politik dem Ende entgegen, berichtet der 53-Jährige. Was folgt, müsse keineswegs ein lukrativer Job in der Wirtschaft sein. "Ich würde auch gern in einer Bar arbeiten oder irgendwas mit Pferderennen machen."

Konflikt "spätestens 2030"

Die Nation und den Westen insgesamt erinnert der Minister an Gefährdungen durch das expansionistische Russland, das nationalkommunistische Regime Chinas sowie die weiterhin bestehenden Terrornetzwerke. Wallaces ernüchternde Prognose: "Spätestens 2030 werden wir uns im Konflikt befinden." Er selbst gehörte zu den frühen und energischen Unterstützern der Ukraine, forderte zudem hartnäckig mehr Waffen und Personal für die heruntergewirtschafteten Streitkräfte Seiner Majestät.

In der "Sunday Times" gibt Wallace auch Einblick in die private Belastung, der Berufspolitiker in führenden Positionen ausgesetzt sind. Sieben Jahre lang, in der Zeit als Sicherheits-Staatssekretär und als Verteidigungsminister, habe er "mit drei Telefonen am Bett geschlafen". Die Beeinträchtigung seines Privatlebens trage Mitschuld am Scheitern seiner Ehe, "das ich sehr bedauere". Nicht zuletzt deshalb habe ihm mindestens eines seiner Kinder - die mittlerweile zwischen 13 und 18 Jahren alt sind - davon abgeraten, im vergangenen Jahr das Amt des Premierministers anzustreben. Den Popularitätsraten unter Konservativen zufolge hätte Wallace den Kampf damals problemlos gewonnen. Bedauern über die entgangene Chance? "Überhaupt nicht. Ich will diesen Job beenden und in die Normalität zurückkehren." (Sebastian Borger, 16.7.2023)