Dominik Straub aus Lampedusa

Es ist schön und heiß in diesen Juli-Tagen auf der kleinen Felseninsel Lampedusa; kaum ein Lüftchen weht, das Meer leuchtet hellblau und ist beinahe so glatt wie ein Spiegel. Ideale Bedingungen für die Überfahrt von Nordafrika zu diesem Punkt Europas, der näher bei Tunesien liegt als bei Sizilien. Und tatsächlich erlebt Lampedusa, die größte der Pelagischen Inseln im südlichen Mittelmeer, in diesen Tagen wieder einmal einen Ansturm von Geflüchteten und Migranten. "Sie kommen gerade zu Tausenden an", sagt der freundliche, braungebrannte Beamte der Finanzpolizei, der den Eingang zum Molo Favaloro am Hafen bewacht. Der Molo Favarolo ist der Landungssteg, wo die Migranten von den Rettungsschiffen an Land gebracht werden; der Polizist sorgt dafür, dass kein Unbefugter die Sperrzone betritt.

Lampedusa Flüchtlinge
Der Molo Favaloro, der Landungssteg, wo die Bootsflüchtlinge ankommen. Im Vordergrund einige ihrer meist sehr kleinen und instabilen Schiffe.
Straub

Es ist 16 Uhr an einem Sonntagnachmittag. Vor fünf Minuten sind am Molo Favaloro 52 Geflüchtete und Migranten auf einem Schiff der Küstenwache angekommen. "Schon in den Stunden zuvor sind mehrere Schiffe hier gelandet, und in etwa einer halben Stunde erwarten wir ein Search&Rescue-Boot der Guardia di Finanza", sagt der Beamte. Allein an diesem Sonntag sind 600 Migranten auf 14 Schiffen in Lampedusa angekommen, ab Mitternacht bis zum Montagmorgen um 8 Uhr werden es weitere 570 sein. Die meisten sind im tunesischen Küstenort Sfax in See gestochen, der nur etwa 100 Kilometer von Lampedusa entfernt liegt. Die Überfahrt dauert wenige Stunden – sofern der Motor nicht abstirbt, sich der Schiffsführer auf dem Meer nicht verirrt oder nicht plötzlich ein Sturm aufkommt. Die Migranten stammen vorwiegend aus dem Sudan, Mali, Guinea, Gambia, Kamerun, Elfenbeinküste und aus Tunesien selbst.

Nationaler Notstand

Im April hat die italienische Rechtsregierung von Giorgia Meloni wegen des "starken Anstiegs der Migrantenströme im laufenden Jahr" den nationalen Notstand ausgerufen. Lampedusa ist das Epizentrum dieses Notstands: Die meisten der 76.000 Bootsflüchtlinge, die in diesem Jahr in Italien bis Mitte Juli ankamen, sind am Molo Favaloro an Land gegangen. Gegenüber dem Vorjahr hat sich die Zahl der Bootsflüchtlinge mehr als verdoppelt.

Aber Lampedusa ist gleichzeitig auch ein beliebtes Urlaubsparadies: Die kleine, nur 20 Quadratkilometer große Insel mit ihren 6.000 Einwohnern kann mit zahlreichen, karibisch anmutenden Badebuchten aufwarten. Die Spiaggia dei Conigli, der Hasen-Strand mit seinem fast weißen Sand und dem türkisblauen, kristallklaren Wasser, ist in den Augen der Einheimischen und vieler Urlauber sogar der schönste Strand der Welt. Lampedusa, das deutlich südlicher liegt als Tunis, ist eine faszinierende Mischung aus Nordafrika und Italien: Die einfachen, meist niedrigen Häuser und die staubigen Gassen erinnern an die Vororte von Tunis; die Via Roma wiederum, die zentrale Ausgehstraße im Hauptort, kann sich bezüglich mediterranen Urlaubsflairs mit ihren unzähligen Bars, Boutiquen, Gelaterien, Fischrestaurants und Trattorien mit jedem süditalienischen Nobelbadeort messen.

Lampedusa Flüchtlinge
Touristen genießen den Sonnenuntergang am "Belvedere" am südlichen Ende der Ausgehstraße Via Roma. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens landen am Molo Favaloro im Stundentakt die Flüchtlingsboote.
Straub

Der Ansturm der Touristen ist noch massiver als jener der Migranten: Seit Anfang des Jahres sind auf dem Flughafen von Lampedusa bereits über 100.000 Urlauber gelandet. Hinzu kommen die Feriengäste, die die Insel von Sizilien aus mit der Fähre erreichen. Am beliebten Stadtstrand Guitgia, der direkt neben dem Molo Favaloro liegt, fahren die Rettungs- und Flüchtlingsboote im Stundentakt vor der Nase der Badenden in den Hafen ein, wenige Dutzende Meter von den Sonnenschirmen entfernt. Kaum jemand nimmt Notiz davon. Nach Sonnenuntergang werden dann auf der Via Roma zu den italienischen Sommerhits Partys gefeiert, getanzt und Karaoke gesungen – während unten im Hafen, auch während der Nacht, weiterhin die Schiffe der Küstenwache und der Guardia di Finanza mit geretteten Migranten einlaufen. Lampedusa ist nicht nur ein Hotspot der Migration, sondern auch des kollektiven Verdrängens.

Geflüchtete kaum zu sehen

Einmal angekommen, verschwinden die Geflüchteten komplett aus dem Blickfeld der Touristen. Das Einzige, was man noch sieht, sind die vielen Minibusse des Roten Kreuzes und der Guardia di Finanza mit den abgedunkelten Scheiben, die die Migranten wenige Minuten nach ihrer Ankunft am Molo Favaloro in das Erstaufnahmezentrum der Insel transportieren. Unauffällig, diskret. Das vom Roten Kreuz geführte Lager liegt am Ende einer holprigen Straße gut versteckt in einem kleinen Tal, etwa einen Kilometer vom Hauptort entfernt. Kaum einer der Migranten, die in Lampedusa ankommen, setzt außerhalb des Molo Favaloro und des Lagers einen Fuß auf die Insel.

Lampedusa Flüchtlinge
Der beliebte Stadtstrand Guitgia: Vor der Nase der Badenden läuft gerade ein Rettungsschiff der Guardia di Finanza zum nächsten Einsatz aus.
Straub

Für die Bootsflüchtlinge haben die Behörden eine gut geölte Maschinerie geschaffen. Im Erstaufnahmezentrum, das von hohen, massiven Gitterzäunen umgeben ist, erhalten sie zuerst einmal eine warme Mahlzeit und, wenn nötig, frische Kleidung. Danach werden sie registriert, wie es das Dublin-Abkommen vorsieht. Spätestens 48 Stunden nach ihrer Ankunft auf Lampedusa werden die Flüchtlinge bereits wieder in eine große Fähre gesetzt, die sie nach Sizilien oder auf das italienische Festland bringt. Oder sie werden mit Charter-Maschinen direkt nach Norditalien ausgeflogen. Der am meisten gehörte Satz auf Lampedusa lautet: "Tanto non si vedono" – "man sieht sie ja nicht." So paradox es klingt: An keinem anderen Ort Italiens trifft man auf den Straßen und Plätzen weniger Migranten an als in Lampedusa, dem Symbolort des Flüchtlingsnotstands.

Proteste gegen "Militarisierung"

Die "Lampedusani", die Einheimischen, sehen die Situation auf der Insel mit gemischten Gefühlen. Auch Calogero Sparma, der hundert Meter hinter dem Guitgia-Strand ein kleines Hotel führt. Der Ruf, eine "Flüchtlingsinsel" zu sein, sei unschön – aber als Insulaner, der die Gefahren des Meeres kennt, hat er Verständnis für die Migranten: "Die Überfahrt ist lebensgefährlich, und deshalb ist es logisch, dass sie den nächstgelegenen Punkt ansteuern. Es ist ja nicht die Schuld der Geflüchteten, dass der kürzeste Weg nach Europa über Lampedusa führt", betont Sparma. Schlimm und inakzeptabel sei dagegen, dass kriminelle Schlepperorganisationen mit der Not der Migranten Millionen verdienten. Und ein wenig ärgert sich Sparma auch über die "Militarisierung" der Insel durch Polizei, Carabinieri und Guardia di Finanza: Die Uniformierten sind auf der Insel tatsächlich allgegenwärtig. In den letzten Wochen gab es sogar zwei kleine Protestaktionen der Anwohner.

Im Hauptberuf ist Sparma Chef des Treibstofflagers am Hafen. Und als solcher kennt er jedes Schiff, das auf Lampedusa ankert. Allein die Küstenwache und die Guardia di Finanza verfügten über mehr als ein Dutzend Rettungsschiffe – mehr als jeder andere italienische Hafen. Hinzu kommt derzeit auch noch eine rumänische Crew der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Zumindest indirekt seien die Migranten auf Lampedusa auch ein Wirtschaftsfaktor, betont Sparma: Die Seenotretter, aber auch das Personal der humanitären Organisationen wie des Uno-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR, des Roten Kreuzes und des Malteserordens, der auf den staatlichen Rettungsschiffen die medizinische Betreuung der Flüchtlinge sicherstellt, müssten ja auch beherbergt und verpflegt werden. "Dank ihnen herrscht in Lampedusa auch im Winter ein wenig Betrieb, wenn alle Touristen wieder abgefahren sind", so Sparma.

Immer mehr Touristen

Auch Silvia und Luca Granata, ein Urlauberpaar aus Lodi in der Nähe von Mailand, stören die Migranten nicht, wohl aber der Umstand, "dass Lampedusa immer touristischer wird und deshalb seine Authentizität zu verlieren droht", wie Silvia Granata bedauert. Die beiden fahren seit vielen Jahren im Juli nach Lampedusa, und zu ihrem obligatorischen Urlaubsprogramm zählt, wie für die meisten Lampedusa-Touristen, eine Inselumrundung mit einem der dutzenden Fischerboote, die von ihren Besitzern zu Ausflugsdampfern umgebaut wurden. Nur mit einer solchen Charterfahrt sei es möglich, die unzähligen Traumbuchten zu bewundern, sagt Luca Granata. Für eine ganztägige Inseltour verlangen die Schiffsführer den Einheitspreis von 60 Euro; darin inbegriffen sind zu Mittag ein Teller Spaghetti alle vongole und Getränke.

Lampedusa Flüchtlinge
Eine Inselrundfahrt ist ein Muss für alle Lampedusa-Urlauber. Manchmal sieht man dabei Delfine und Meeresschildkröten – und nicht selten begegnen die Touristenboote einem Schiff mit Migranten.
Straub

Nicht selten begegnen die Touristenschiffe während der Inselumrundung auch Flüchtlingsbooten. Deren Passagiere haben für ihre Reise der Hoffnung wesentlich mehr bezahlt als die Touristen: Die Schlepperbanden verlangen für die Überfahrt von Tunesien oder Libyen nach Europa nicht selten mehrere Tausend Dollar. Die Begegnungen der Touristen- und Migrantenboote vor der Küste Lampedusas zählen zum Bizarrsten, was der Flüchtlingsnotstand zu bieten hat.

Letztlich ist Lampedusa nichts anderes als eine Metapher für alle Selbstlügen, Illusionen und Halbwahrheiten bezüglich Migration, vor allem in der Politik. Ein Beispiel dafür ist Giorgia Melonis Rückwärtssalto: Im Wahlkampf hatte die Chefin der postfaschistischen Fratelli d'Italia noch die Verhängung einer Seeblockade gegen die Flüchtlingsboote versprochen – heute lässt sie die Küstenwache aufs Meer hinausfahren, um die Migranten einzusammeln, bevor sie Schiffbruch erleiden. Zu Beginn ihrer Amtszeit, in der Nacht des 26. Februar, waren die staatlichen Seenotretter Italiens einmal nicht ausgelaufen – die Folge davon waren fast 100 ertrunkene Migranten in Cutro vor der kalabrischen Küste, darunter 15 Kinder. Für Meloni, die selbst Mutter einer sechsjährigen Tochter ist, war das ein heilsamer Schock. Es ist eben ein Unterschied, ob man als Wahlkämpferin eine harte Linie fordert oder ob man als Regierungschefin in der politischen Verantwortung steht, wenn sich solche Tragödien ereignen.

Kooperation mit Tunesien

Die Einheimischen in Lampedusa sagen: Die Migranten auf dem Meer stoppen zu wollen ist, als wolle man den Saharastaub mit den Händen aufhalten, den der Scirocco aus der Wüste zu uns bläst. Die politische Strategie besteht nun darin, die Migranten an den Küsten Nordafrikas schon gar nicht ablegen zu lassen. Und so pilgerte Meloni am Sonntag schon zum dritten Mal innerhalb von wenigen Wochen nach Tunis, zum zweiten Mal mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Schlepptau. Meloni und die EU wollen den tunesischen Staatspräsidenten Kais Saied mit viel Geld dazu bewegen, die Migranten am Losfahren zu hindern.

Die Blaupause für die erhoffte Hilfe ist der Deal, den die EU 2016 mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan geschlossen hatte, um die syrischen Kriegsflüchtlinge aufzuhalten. Milliardenüberweisungen an Autokraten und Despoten wie Saied und Erdoğan: Darin scheint inzwischen die einzige Hoffnung der europäischen Demokratien zu bestehen, die Migration zu begrenzen.

Lampedusa Flüchtlinge
Die "Porta d'Europa" (Tor Europas) am südlichsten Punkt der Insel erinnert an die Tausenden von Migranten, die bei der Überfahrt schon ihr Leben verloren haben. Von den Touristen wird die Skulptur weitgehend ignoriert.
Straub

Erinnerung an die Toten

Der Tod bleibt der Begleiter der Geflüchteten im Mittelmeer. Heuer sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) während der Überfahrt bereits mehr als 1.900 Menschen gestorben oder werden vermisst. Auf Lampedusa erinnert die Skulptur "Porta d'Europa" an die Tragödien. Das Werk des süditalienischen Bildhauers und Malers Mimmo Paladino ist 2008 am südlichsten Punkt der Insel errichtet worden. Das "Tor Europas" soll, erklärte der Künstler, "an alle Migranten erinnern, deren Reise nicht vollendet werden konnte – an die Menschen, die im Meer gestorben sind, an ihre zerstörten Lebensgeschichten und an die Geschichten der Eltern, die ihre Kinder verloren haben, und an die der Kinder, die zu Waisen wurden. Es soll von verlorenen Liebsten erzählen, von zerschlagener Hoffnung, von gebrochenen Versprechungen – und von der Angst, die wahr wurde."

Es ist in der Regel übrigens ziemlich einsam bei der "Porta d'Europa" von Lampedusa, obwohl sie sich nur wenige Hundert Meter vom Hafen und von der Via Roma entfernt befindet. Die Touristen interessieren sich kaum für die Erinnerungsstätte. (Dominik Straub aus Rom, 18.7.2023)