Blur, Britpop
Damon Albarn (vorne rechts) und Blur warten im Studio auf Inspiration. Albarn sieht schon das Licht.
Reuben Bastienne-Lewis

Wie bei jeder dysfunktionalen Familie wächst die gegenseitige Zuneigung ihrer Mitglieder nur über den größer werdenden Abstand voneinander. Das britische Quartett Blur bildet da keine Ausnahme. Herauf von den frühen 1990er-Jahren haben Blur um ihren schnoddrigen Frontmann Damon Albarn spätestens seit den Nullerjahren immer Wert auf jahrelange Beziehungspausen gelegt.

Im Gegensatz zu ihren großen alten, in freundschaftlicher Feindschaft verbundenen Kontrahenten aus der Hochzeit des Britpop wie Oasis mussten Albarn, Gitarrist Graham Coxon, Bassist Alex James und Drummer Dave Rowntree sich deshalb auch nie im Streit auflösen. Man ging sich einfach aus dem Weg, um dann gelegentlich doch wieder ein Album aufzunehmen und ein paar Konzerte zu spielen.

Blur

Graham Coxon jammte sich durch die Gegend und veröffentlichte als Solokünstler. Alex James produzierte auf einer Farm in der britischen Pampa unter anderem Käse. Dave Rowntree war in der britischen Lokalpolitik aktiv und veröffentlichte aktuell ebenfalls ein spätes Soloalbum. Das letzte gemeinsame Studioalbum von Blur namens The Magic Whip stammt von 2015, Think Tank, jenes davor, von 2003.

Nun ist es mit der Songsammlung The Ballad of Darren wieder so weit. Das Angebot, heuer Anfang Juli zweimal im mit jeweils 90.000 Besuchern ausverkauften Londoner Wembley-Stadion zu spielen, war zu verlockend. Damit das erneute Abspielen alter Hadern wie Girls & Boys von 1994 und dem endgültigen kommerziellen Durchbruch mit dem dazugehörigen Album Parklife oder Song 2 und Beetlebum von ihrem bis dato erfolgreichsten Album Blur von 1997 nicht zu routiniert abläuft, schaute die Band beim Proben, ob es nicht auch möglich wäre, neues Material unter die Leute zu bringen.

Immerhin schüttelt Damon Albarn als Workaholic nicht nur regelmäßig Songs für seine zweite Band Gorillaz aus dem Ärmel, zuletzt 2020 eine ausufernde Veröffentlichungslawine als Song Machine sowie heuer das Album Cracker Island. Er produziert auch ruhige melancholische Soloalben wie im Jahr 2021 The Nearer the Fountain, More Pure the Stream Flows.

Abgeklärte Melancholie

Der beflissene Schüler von großen Vorbildern wie Ray Davies und The Kinks ist stilistisch als talentiertester Musiker aus der Generation Britpop so vielseitig aufgestellt, dass zwischendurch auch genügend Material da ist, um ein neues, zwischen Hightech und Bisquitdosen angesiedeltes Album von Blur nicht als Fingerübung erscheinen zu lassen.

Mit Mitte 50 sind die wildesten Zeiten langsam vorbei. Das neue Album The Ballad of Darren ist deshalb zu weiten Teilen abgeklärt melancholisch geraten. Damon Albarn singt immer noch mit verstopfter Nase und einem Stimmumfang von drei Tönen herrliche Balladen wie The Ballad, Russian Strings,The Everglades oder das windschiefe Prachtstück Far Away Island.

Blur

Wenn man sich zu Hause auf den Perserteppich setzt und das LSD von Micro- auf Macrodosing umstellt, kann man beim Hören auch gemeinsam mit den späten Beatles oder Pink Floyd in ihrer gesättigten Phase während der 1970er-Jahre hinaus in den Weltraum in die 1990er-Jahre zu psychedelischen Herzerweiterungskünstlern wie The Flaming Lips fliegen. Eine diesbezüglich schöne Textstelle findet sich in The Narcissist: "I looked in the mirror, so many people standing there." Ein schöner Chor singt dazu: "Connect us to love."

Den Höhepunkt stellt allerdings St. Charles Square dar. In dem darf Gitarrist Coxon die Sau rauslassen. Die Zehennägel aufrollende Gitarre über einem hämmernden Klavierrocker erinnert an Robert Fripps Arbeit auf David Bowies Götteralbum Scary Monsters (and Super Creeps) von 1980. Auch Albarn ist ganz Bowie: "I fucked up, I’m not the first to do it."

Erhältlich ab 21.7.

(Christian Schachinger, 17.7.2023)