Urs Wälterlin aus Yulara

Chris Holt hat einen "Traumjob", wie er sagt. Der Australier fährt Reisende aus der ganzen Welt zu einem der Wahrzeichen des Roten Kontinents: dem Uluru, früher Ayers Rock genannt. Seit Zehntausenden von Jahren leben die Menschen vom Stamm der Anangu-Aborigines im Schatten des orangen Berges. "Ich war schon deutlich älter als 50, als ich während einer Reise nach Zentralaustralien zum ersten Mal mit den indigenen Bewohnern meines Landes in Kontakt kam", meint der heute 69-Jährige.

Holt ist ein typischer weißer Australier, typischer geht es eigentlich kaum: Seine Vorfahren kamen 1788 als Sträflinge mit der sogenannten "First Fleet" auf den Kontinent, der ersten britischen Flotte. Doch Holt ist auch untypisch. Denn obwohl er – wie die meisten Australier – in einer Großstadt aufgewachsen ist, hat er einen Bezug zu den Indigenen. Die meisten Australierinnen und Australier kennen Aborigines nur aus dem Fernsehen und haben nie wirklich direkten Kontakt. Gerade einmal drei Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als indigen.

Demo Sydney Aborigines.
Demo in Sydney für mehr Mitbestimmung für die Aborigines.
EPA/BIANCA DE MARCHI

Seine Begegnungen mit den ersten Australiern damals hätten sein Verständnis für deren Probleme geschärft, meint Holt, während er auf dem Parkplatz der Siedlung Yulara auf seine Reisegäste wartet. "Um jemanden zu verstehen, muss man in dessen Haut stecken, habe ich als Kind gelernt", so der Busfahrer. "Das kann ich im Fall der Aborigines aber nicht. Denn meine Vorfahren wurden schließlich nicht ermordet, meine Kultur, meine Sprache und mein Land sind mir nicht genommen worden", so Holt mit Blick auf die blutige koloniale Geschichte Australiens. "Und ich leide auch nicht unter alltäglichem Rassismus."

Lügen aus dem konservativen Lager

Man muss im Vorfeld einer Abstimmung über die Schaffung eines Beratergremiums für Indigene lange suchen, um im weißen – oder präziser gesagt im nichtindigenen – Australien solch tiefes Verständnis für die Indigenen zu finden. Konservative Kräfte nutzen das mangelnde Wissen und Bewusstsein in der Bevölkerung, um mit Fehlinformationen und Halbwahrheiten Stimmung gegen die Vorlage zu machen. Die Gegner haben in den letzten Wochen ein regelrechtes Stakkato von Halbwahrheiten, Unwahrheiten und sogar Lügen über die sogenannte Stimme für Indigene gestreut – immer mal auch mit rassistischen Untertönen. In der australischen Politik ist es generell nicht verboten, im Vorfeld einer Abstimmung Unwahrheiten zu verbreiten.

Die für Aborigines zuständige Ministerin Linda Burney verglich die Methoden jüngst mit denen des früheren US-Präsidenten Donald Trump. Tatsächlich genießen laut Recherchen der Zeitung "The Guardian" Gruppierungen, die sich gegen die Vorlage aussprechen, die Unterstützung amerikanischer, christlich-konservativer Organisationen, die Trump nahestehen. Die Polemik und Verwirrungskampagne zeigt auf jeden Fall Erfolg. Noch vor zwei Monaten wäre die Abstimmung wohl durchgekommen. Würde sie heute durchgeführt, hätte sie laut Umfragen keine Chance.

2.500 Kilometer weiter östlich, in der Kleinstadt Goulburn, ist für die Bäuerin Julia McKay klar, dass sie ein Nein in die Urne legen wird. Sie denke nicht, dass eine Gruppe von Menschen "einzig aufgrund ihrer Rasse" besondere Vorzüge haben sollte, meint sie. Damit unterstreicht sie die zentrale Behauptung vieler Gegner: dass die "Stimme im Parlament" rassistisch sei – gegenüber der nichtindigenen Bevölkerungsmehrheit, gegenüber den Weißen. Rasse spielt eine große Rolle in der Debatte um die Vorlage – Rasse und Neid: Viele Australierinnen und Australier haben das Gefühl, Aborigines würden vom Staat mehr Unterstützung erhalten als sie. Das zeigen Tausende von offen rassistischen Kommentaren im Internet.

Keine gesetzgebende Rolle

McKay ist Mitglied der konservativen Liberalen Partei im Parlament, die gegen das Beratungsgremium für Aborigines argumentiert. Ein Punkt der Kritik der Konservativen ist, dass sich die Indigenen auf diese Weise eine eigene Kammer im Parlament schaffen wollten. Oder sie würden einen Zugang zu Politik und Politikern haben, den andere Randgruppen nicht hätten. Beides ist nicht korrekt. Laut Vorlage hätte das Gremium keine gesetzgebende Rolle. Es würde Regierung und Parlament auch nur in Fragen beraten, welche die Ureinwohner ganz besonders betreffen – Gesundheitsversorgung etwa oder Wohnungsbau. Die Politiker können dann auf den Rat hören, oder auch nicht.

Schließlich haben Lobbyisten von Industrie und Wirtschaft seit Jahren wesentlich besseren Zugang und stärkeren Einfluss auf Parlamentarier und auf die Administration, als die Vorlage es den Aborigines erlauben würde. Doch gewisse alteingesessene Interessen sähen jede Form von Mitsprache der Indigenen als Gefährdung ihrer eigenen privilegierten Situation, sagen Kritiker. Gewisse Minenunternehmen etwa und Landbesitzer, deren Vorfahren am stärksten von der Enteignung und Vertreibung der Indigenen seit der weißen Besiedelung profitiert hätten.

Um die Körperschaft auf eine sichere juristische Grundlage zu stellen, ist eine Änderung der australischen Verfassung notwendig. Damit würden die Indigenen zum ersten Mal im Grundgesetz von 1901 erwähnt. Dass Aborigines bisher in der Verfassung nicht vorkommen, hat mit der rassistischen Denkweise der weißen Gründungsväter zu tun. Erst seit 1967 werden indigene Australierinnen und Australier überhaupt als Bürgerinnen und Bürger ihres Landes gezählt – obwohl sie schon seit 65.000 Jahren auf dem Kontinent leben.

Aufarbeitung der Vergangenheit

Für Julia McKay ist die Nennung der Indigenen in der Verfassung kein Problem. Aber sie fürchte, die üblichen, eloquenten führenden Persönlichkeiten der Indigenen würden ein Beratergremium dominieren, Vertreter der "Aborigines-Industrie", wie sie sie nennt. Dem hält die sozialdemokratische Regierung entgegen, dass die Mitglieder des Gremiums aus einzelnen Gemeinden kommen würden, also von der Basis bestimmt werden. Trotzdem werde sie mit Nein stimmen, denn sie sehe "die Harmonie zwischen indigenen und nichtindigenen Gemeinden bedroht", meint McKay.

Der Befürworter Chris Holt dagegen sieht genau das Gegenteil: Ein Ja im Herbst ist für ihn ein Muss, damit die dunkle Vergangenheit aufgearbeitet werden und ein Prozess der Versöhnung beginnen könne. "Ein Ja gäbe den Indigenen Hoffnung und zeigt, dass sich Australien vielleicht sogar um sie sorgt. Ein Nein dagegen würde zeigen, dass die ersten Bewohner des Kontinents den Australierinnen und Australiern schlicht nicht wichtig sind." (Urs Wälterlin aus Yulara, 24.7.2023)