Viele Sorgen und offene Fragen nach Russlands Ausstieg aus dem Getreidedeal.
Viele Sorgen und offene Fragen nach Russlands Ausstieg aus dem Getreidedeal.
AP/Andrew Kravchenko

Seit der Getreidedeal 2022 zwischen der Ukraine, Russland, der Türkei und der Uno ausgehandelt wurde, steht er quasi permanent auf der Kippe. Denn die Abmachung, die die sichere Verschiffung von ukrainischem Weizen über das Schwarze Meer in Richtung türkischem Bosporus in Kriegszeiten ermöglichen sollte, galt immer nur für einige Wochen bzw. ein paar Monate.

Vor jeder Erneuerung drohte Russland damit auszusteigen: Viermal hat Moskau einer Verlängerung dann doch zugestimmt (wenn zuletzt auch nur für 60 Tage). Nun hat der Kreml Ernst gemacht mit seiner Drohung. Der Getreidedeal ist am Montag – fünf Tage bevor das Abkommen sein einjähriges Jubiläum erreicht hätte –  ausgelaufen und liegt nun auf Eis.

Video: Kurz erklärt: Das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine
AFP

Frage: Was bedeutet das Ende des Deals?

Antwort: Vorweg zur Erinnerung: Die Kriegsparteien Moskau und Kiew haben keinen gemeinsamen Deal unterzeichnet. Das Schwarzmeer-Abkommen besteht eigentlich aus mehreren Vereinbarungen, die Russland und die Ukraine jeweils separat mit Uno und Türkei getroffen haben. Der Kreml ließ mit 17. Juli also nur seinen Teil des Abkommens auslaufen. Nämlich jenen, in dem Moskau der Uno und der Türkei zugesichert hat, den "Export von Getreide, verwandten Nahrungsmitteln und Düngemitteln, einschließlich Ammoniak", aus den drei ukrainischen Häfen Odessa, Tschornomorsk und Piwdennyj über einen sicheren Korridor zu ermöglichen. 

Frage: Welche Folgen hat das Auslaufen des Teilabkommens?

Antwort: Das ist derzeit noch schwer zu sagen. Kiew würde das Abkommen gerne ohne russische Beteiligung fortsetzen. Unklar ist aber, wie. Grund für die Getreideinitiative vor einem Jahr war ja die andauernde russische Besetzung ukrainischer Häfen im Asowschen Meer und Russlands Blockade von Häfen im Schwarzen Meer sowie die beidseitige Verminung des Gewässers. All das hatte in den ersten Kriegsmonaten eine Ausfuhr ukrainischen Weizens viel zu gefährlich und versicherungstechnisch viel zu teuer gemacht. Mit Russlands Ausstieg aus der Vereinbarung wird eine Rückkehr zum Stillstand der Verschiffung aus den ukrainischen Schwarzmeerhäfen aus genau diesen Gründen befürchtet.

Frage: Warum?

Antwort: Die Versicherung von Frachtschiffen im Kriegsgebiet ist extrem teuer. Es ist außerdem unklar, ob Betreiber von Frachtern ohne russische Zustimmung die Ukraine-Häfen ansteuern würden. Am Dienstag warnte der Kreml davor: Eine Fortsetzung ohne russische Beteiligung wäre riskant, hieß es aus Moskau mit einem Verweis auf mutmaßliche Gefahren durch ukrainische Militäraktivitäten. Dabei war es Russland, das in der Nacht erneut den wichtigen Odessa-Hafen mit Raketen angegriffen hat. Die unklare Lage bei dem Weizen- und Getreideangebot wird auf dem Weltmarkt jedenfalls mit massiven Preisschwankungen in Verbindung gebracht, unter denen insbesondere ärmere Länder leiden. Das bestätigt auch der Berliner Büroleiter des Uno-Welternährungsprogramms (WFP), der nun eine Zunahme des Hungers prognostiziert. Das Problem sei "nicht, dass wir nicht genügend Lebensmittel in der Welt haben, sondern die Preise".

Frage: Wie hat das Abkommen für eine sichere Ausfuhr in Kriegszeiten gesorgt?

Antwort: Bisher haben türkische, ukrainische und Uno-Mitarbeiter die Verladung von Getreide auf Schiffe in ukrainischen Häfen gemeinsam kontrolliert. Dann wurden die Frachter von ukrainischen Lotsenschiffen durch die stark verminten Gebiete in Küstennähe begleitet. Bei der anschließenden Überquerung des Schwarzen Meers in Richtung des Bosporus wurden die Schiffe von Vertretern der Uno, der Ukraine, Russlands und der Türkei in einem gemeinsamen Koordinationszentrum in Istanbul genau überwacht. Schiffe, die dagegen durch den Bosporus in Richtung Ukraine fahren wollten, wurden durchsucht, um sicherzustellen, dass damit keine Waffen transportiert werden. So konnten seit einem Jahr rund 32,8 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten, hauptsächlich Weizen und Mais, aus der Ukraine exportiert werden. Das entspricht einem Drittel der weltweiten Agrarexporte der vorigen Saison. Das Gros ging an China. 

Frage: Wie geht es jetzt weiter?

Antwort: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj pocht jedenfalls darauf, dass das Schwarzmeer-Abkommen weitergeführt werden müsse und auch ohne russische Beteiligung funktionieren könne. Laut Medienberichten will die Ukraine mit Ankara besprechen, ob die Türkei Frachter mit ukrainischem Getreide schützen könnte. Wie das funktionieren soll, ist aber unklar. Ob sich Recep Tayyip Erdoğan diesen diplomatischen Affront gegenüber Putin leisten will, auch. Am Dienstag haben die Außenminister Russlands und der Türkei miteinander gesprochen. Die Sicherheitsgarantien für ukrainische Exporte seien aufgehoben, hieß es von Russlands Außenminister Sergej Lawrow nach dem Telefonat. Dies bedeute, dass es der Nordwesten des Schwarzen Meeres wieder "eine temporär gefährliche Zone" sei. Das Koordinierungszentrum zur Umsetzung des Getreideabkommens erklärte Moskau für aufgelöst.

Frage: Gibt es für ukrainisches Getreide nun alternative Routen?

Antwort:  Sollten die ukrainischen Getreideexporte erneut massiv zurückgefahren werden, könnte das nicht nur für Unruhe am Weltmarkt sorgen, sondern wäre es auch in jedem Fall ein schwerer Schlag für die ukrainische Wirtschaft. Die Ukraine, die monatlich bis zu sieben Millionen Tonnen Getreide verladen kann, arbeitet derzeit in kleinen Schritten an alternativen Ausfuhrwegen über die Donau und den Landweg. Doch die Transportkapazitäten in die EU, insbesondere auf dem Schienenweg, sind schätzungsweise auf maximal eine Million Tonnen pro Monat (im Durchschnitt) begrenzt. Grund dafür sind neben der Infrastruktur auch europäische Importbeschränkungen: Polen, Ungarn, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien haben nach Protesten von Bauern gegen fallende Preise einseitig Einfuhrverbote für ukrainisches Getreide verhängt. Sie gelten aber nicht für den Transit.

Frage: Wie sehen das österreichische Branchenvertreter der Agrarindustrie?

Antwort: Im Gegensatz zu Politikern im Westen und Uno-Vertretern sorgt das Aus für den Getreidedeal unter hiesigen Agrar- und Nahrungsindustrievertretern für weniger Nervosität. "Natürlich sind gewisse, aber abgeschwächte Auswirkungen zu erwarten. Wir glauben nicht an einen Sturm, auch wenn es etwas rauscht", sagt Goodmills-Manager Peter Stallberger der APA. Das sieht Landwirtschaftskammer-Österreich-Generalsekretär Ferdinand Lembacher im APA-Gespräch ähnlich, mehr Ukraine-Getreide solle aber nicht Richtung Westen. "Dass Getreide aus der Ukraine nach Westeuropa umgeleitet wird, ist nicht in unserem Interesse." Es dürfte viel Getreide in der Ukraine "liegen bleiben".

Das vorerst letzte Schiff, das im Rahmen des Getreidedeals das Schwarze Meer durch den Bosporus verlassen konnte.
Das vorerst letzte Schiff, das im Rahmen des Getreidedeals das Schwarze Meer durch den Bosporus verlassen konnte.
REUTERS/MURAD SEZER

Frage: Wie stehen die Chancen, dass Russland wieder ins Abkommen einsteigt?

Antwort: Dmitri Peskow, der Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, meinte, dass Moskau sofort zum Getreidedeal zurückkehren werde, sobald die Vereinbarungen mit Russland umgesetzt sind. Aus russischer Sicht seien die Schwarzmeer-Abkommen schon vor Russlands Ausstieg "faktisch nicht mehr gültig" gewesen.  

Frage: Was sind Russlands Forderungen?

Antwort: Moskau fordert die Erfüllung von fünf Bedingungen. Nach eigenen Angaben handelt es sich dabei um die Wiederanbindung der russischen Agrarbank Rosselchosbank an das internationale Swift-Zahlungssystem, die Wiederaufnahme der Ersatzteil- und Ausrüstungslieferungen, der Transportlogistik und Versicherungen sowie die Freigabe eingefrorener Vermögenswerte russischer Firmen. Die fünfte Bedingung ist offenbar die Inbetriebnahme der Ammoniak-Exportpipeline Togliatti-Odessa. Sie wurde zu Kriegsbeginn gestoppt. Ukraine-Experten mutmaßen aber auch, dass Moskau deshalb gerade jetzt den Ausstieg vollzogen hat, weil seine neue Ammoniakpipeline zum russischen Hafen Taman bald fertiggestellt wird und zudem neue Exportrouten für russisches Getreide über Zentralasien entwickelt würden. (Flora Mory, 18.7.2023)