Johanna Sebauer
Johanna Sebauer, geboren 1988 in Wien und aufgewachsen im Burgenland, lebt heute in Hamburg.
Birte Filmer

Das Licht der Aufmerksamkeit strahlt auf alle mit der gleichen erwärmenden Kraft. Ob Persönlichkeiten, Länder und Gemeinden, es gibt niemanden, der nicht berühmt zu sein wünschte. Selbst für kleine Lichter haben die sozialen Medien ein paar generöse Likes im Angebot.

Nur die Bewohner eines Örtchens an der österreichisch-ungarischen Grenze denken anders. Nincshof soll einst ein Pfahldorf in den Sumpfgebieten des Neusiedler Sees gewesen sein. Bewohnt wurde es von verschrobenen Aalfischern, die – ein mutterrechtliches Kuriosum am Rande – bei jeder Heirat den Namen ihrer Angetrauten annahmen.

Schlingel aus dem Sumpf

Inzwischen scheinen die Figuren in Johanna Sebauers Romandebüt Nincshof recht gut in der zeitgenössischen Moderne angekommen zu sein. Zwar kippen sie immer noch ihren selbstgebrannten Pusztafeigenschnaps. Zugereisten – wie einer zivilisationsmüden Dokumentarfilmerin mitsamt ziegenhütendem Ehemann – begegnen die Seewinkelkäuze gebremst liebenswürdig. Man kennt dergleichen Vorbehalte – und vermutet deshalb noch nicht hinter jedem Friedhofstor eine unsühnbare Schuld.

Vielleicht krankt Sebauers unbedingt charmant erzählter Roman ausgerechnet an der ihm zugrunde gelegten Freundlichkeit. Der Gipfel anarchischer Sinnenlust, zu dem sich diese schwund-pannonischen Schlingel hinreißen lassen, sind heimliche Betretungen von Schwimmbecken in der Nachbarschaft, verbunden mit Fressorgien im Liegestuhl. Die Heldinnen dieses treuherzigen Landstriches heißen Erna Rohdiebl, Fetzi Erlanger oder Frederika Liebzipfel. Man fühlt sich in der Tat an die knubbeligen Figürchen des Bildhauers und burgenländischen Menschenbildners Gottfried Kumpf erinnert.

Aufstand der Oblivisten

Eine handverlesene Schar besagter Nincshofer trägt sich mit durchaus staatsgefährdenden Ansichten. Sie wollen ihre Gemeinde, die so mühsam aus dem Sumpf herausgewachsen ist, wieder dem verdienten Vergessen anheimgeben. "Freiheit den Nincshofern! Nincshof der Freiheit!", skandieren die Revoluzzer. Dabei hocken sie auf konspirativen Eckbänken und schieben sich Speckbrotwürfel in den Mund.

Es ist kaum auszudenken, wohin diese Kampagne führt: Ortstafeln verschwinden, und die Fahrradtouristen sind heillos überfordert. Selten wurde ein kurioses Anliegen, nämlich aus dem Gedächtnis der Allgemeinheit zu verschwinden und damit aus den Annalen der Welt, derart schaumgebremst vertreten.

Die Theorie dieser Oblivisten (zu übersetzen mit: "die, die vergessen werden wollen …") trägt nicht weit. Bekanntlich liegt es in niemandes Macht, ob ihm auch wirklich entfällt, was er zu vergessen wünscht. Brav führt die Autorin in der Nachrede an, dass sie zum Thema Aleida Assmann konsultiert hat.

Umfassende Harmlosigkeit

Das Problem liegt in der umfassenden Harmlosigkeit eines solchen Entwurfs. Man weiß seit Menschengedenken, dass es die Österreicher im Zweifelsfall vorziehen, vom Rest der Welt in Ruhe gelassen zu werden. Wer sich duckt, und sei es in den milde rauschenden Schilfgürtel des Neusiedler Sees, der darf davon ausgehen, dass es ausgerechnet ihn nicht trifft.

Die Verstrickungen der Handlung tun nicht viel zur Sache: Nincshof, ein Beispiel für skurrile Heimatliteratur, lässt sich im Liegestuhl famos wegschmökern – wie es im Jargon der Verlagsprospekte heißt.

Dieser Roman, der mit hübschen Formulierungen glänzt, kann kein Wässerchen trüben. Man darf auf die kommenden Arbeiten von Johanna Sebauer (34, heute wohnhaft in Hamburg) gespannt sein. Und apropos Trübung: Für den armen Neusiedler See käme die Aussicht auf eine solche ohnehin einer Art von Bestandssicherung gleich. (Ronald Pohl, 21.7.2023)