Reiner Wandler aus Nàquera und Valdemorillo

"Schau mal, die sind neu!", sagt Paco Pérez und zeigt hinüber auf die andere Straßenseite. Dort hängen eine lila Flagge mit dem Frauensymbol und der Faust sowie eine Regenbogenfahne. "Als Protest gegen die neue, rechtsextreme Gemeindeverwaltung", erklärt Pérez (58), einer der Vorkämpfer für LGBTIQ-Rechte in dem 7500 Einwohner zählenden Ort. Nàquera, nördlich von Valencia, hat seit den Regional- und Kommunalwahlen im Mai einen Bürgermeister der rechtsextremen Vox. Er regiert mit dem rechtskonservativen Partido Popular (PP). LGBTIQ-Fahnen an öffentlichen Gebäuden sind nun verboten, ebenso offizielle Schweigeminuten für Opfer sexualisierter Gewalt.

Mittlerweile regieren die beiden Rechtsparteien in fünf autonomen Regionen – in einer weiteren wird noch verhandelt. Außerdem zogen sie gemeinsam in über 100 Gemeinden ins Bürgermeisterbüro ein. Nàquera, das ist ein Symbol für den Rechtsruck in Spanien.

Im Zentrum von Madrid warnt ein großes Poster vor "Vereinbarungen des Hasses" und meint damit unter anderem Einschränkungen von Frauen- und LGBTIQ-Rechten durch die rechten Parteien PP und Vox.
AP/Bernat Armangue

Die Lage könnte sich jetzt weiter verschärfen: Am Sonntag stehen Parlamentswahlen an. Ministerpräsident Pedro Sánchez hat sie vorgezogen, nachdem seine Sozialisten (PSOE) bei den Regional- und Kommunalwahlen herbe Verluste einstecken mussten. Die Umfragen sehen seinen konservativen Herausforderer Alberto Nuñez Feijóo (PP) vorne. Und dieser lässt keinen Zweifel daran: Sollte die Zahl der Abgeordneten ausreichen, wird er spanienweit mit Vox koalieren.

In den Regionen, in denen der PP dank Vox bereits regiert – Castilla y León, Valencia, Extremadura, Aragón, Balearen – weht ein neuer Wind: Ultrareligiöse und offene Anhänger der Franco-Diktatur sitzen im Kabinett; sie bestreiten den Klimawandel und die Notwendigkeit von Umwelt- und Tierschutz; die Förderung der Regionalsprachen wird eingestellt; regionale Gesetze zur Gleichstellung sexueller Minderheiten sollen rückgängig gemacht werden; Programme gegen Gewalt gegen Frauen sind Geschichte. Man redet nur noch von "familiärer Gewalt" und bestreitet, dass es machistische Übergriffe gibt.

"Sogar in der Fernsehdebatte zwischen Sánchez und Feijóo war Nàquera zweimal Thema", erzählt Pérez. Seine Stimme schwankt irgendwo zwischen Stolz und Trauer. Für PSOE-Chef Sánchez ist das, was sich in Nàquera abspielt, "die Vorschau auf einen Horrorfilm".

Paco Pérez und David Torres.
Reiner Wandler

Pérez wird für die Linkskoalition stimmen. "Sie haben viel erreicht", sagt er und zählt die Steigerung des Mindestlohnes, die Anhebung der Pensionen, den Mieterschutz, die Verbesserung der Arbeitsrechte und ein Transgendergesetz auf. "Wir kommen aus einer repressiven Vergangenheit – und jetzt wollen sie dahin zurück? Ich bin es leid, dass immer wieder erneut alles infrage gestellt wird, was wir erreicht haben."

"Mir wurde schlecht"

Der Koch ist seit 2015 mit seinem Lebensgefährten verheiratet. Für ihn war es ein Schock, als die rechte Koalitionsvereinbarung in Nàquera bekannt wurde. "Die erste LGBTIQ-Fahne, die vor Jahren am Rathaus wehte, war meine. Mir wurde schlecht, als ich vom Verbot der Fahne und der Demos erfuhr", sagt Pérez.

Umso größer war die Überraschung, als er im Internet einen Aufruf entdeckte: Eine LGBTIQ-Kundgebung in Nàquera am Tag der Gay-Pride! Es war eine Handvoll junger Leute, die auf diese Idee kamen. Der 27-jährige Kellner Igor Martín ist zusammen mit der gleichaltrigen Krankenhausangestellten Carmen Navarro der Kern derer, die die Gay-Pride gegen die Rechtsextremen in nur drei Tagen organisierten. Es kamen rund 800 Menschen.

Igor Martín und Carmen Navarro
Igor Martín und Carmen Navarro gehören zum Kern derer, die die Gay-Pride gegen die Rechtsextremen in drei Tagen organisierten.
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Alle hier im Ort kennen den jungen Mann, zumindest vom Sehen. Er macht aus seiner homosexuellen Orientierung kein Hehl. "Belästigt wurde ich bisher so gut wie nie, vielleicht ab und zu von irgendwelchen Besoffenen", sagt Martín. Doch nun merkt er, wie die Stimmung angespannter wird. Er verweist auf zwei Damen, die herüberstarren.

"Nàquera ist sehr traditionell", damit versucht Navarro zu erklären, warum Vox stärkste Partei wurde. Viele hätten den Stierkampf und die Jagd gefährdet gesehen, als in den vergangenen acht Jahren eine Linkskoalition in der Region regierte. Dennoch hat im Ortskern der sozialistische PSOE gewonnen. Vox war nur dritte Kraft. "Die Rechtsextremen holen ihre Stimmen in den Neubaugebieten", erklärt sie. "Die Gay-Pride war nur der Anfang. Wir werden weitermachen."

Interview verweigert

Im Rathaus werden die neuen Zeiten offensichtlich: Wer ein Interview mit Bürgermeister Iván Expósito will, landet bei Sprecherin Marta Izquierdo, auch verantwortlich für "Tradition, Stierkampf, Jagd, Viehzucht, Landwirtschaft, Wasser und Kulturerbe". "Wir sprechen nur mit unseren Medien", wehrt sie ab, noch bevor sie überhaupt weiß, welcher Journalist da auf sie wartet. "Ihre Medien" seien Estado de Alarma TV ( Alarmzustand, Anm.) sowie ein in Vox-Kreisen beliebter Journalist, der oft in TV-Talkshows auftritt. Beide sind bekannt dafür, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. So dichteten sie der Familie von Sánchez’ Ehefrau ein Bordell an und werfen den Sozialisten schon im Vorhinein Wahlbetrug vor. "Wir sind eine rechte Partei. Liberalen und linken Blättern geben wir keine Interviews", sagt Izquierdo, verlangt dann doch eine Visitenkarte. Einen Rückruf tätigt sie freilich nie.

"Die Gemeinden sind für die Rechte und Ultrarechte ein Versuchslabor", ist sich Debora Díaz sicher. Die 33-Jährige ist Volksschullehrerin in Valdemorillo bei Madrid. Auch hier regieren nun PP und Vox. Eine der ersten Amtshandlungen brachte Hunderte auf die Straße: Die für den 25. November – dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen – geplante Aufführung des Theaterstücks Orlando von Virginia Woolf wurde abgesetzt. Das feministische Buch war bereits zu Zeiten der Franco-Diktatur verboten.

Debora Díaz führt in der Mitte den Protest an. "Angesichts der Zensur schweigt der Feminismus nicht", steht auf einem Plakat.
Reiner Wandler

"In der neuen Gemeindeverwaltung ist Vox für Kultur zuständig", bedauert Díaz – und statt eines oder einer Beauftragten für Gleichberechtigung gebe es jetzt einen für "Familie und Geburt". Bildung, Gesundheit, soziale Dienste: Das wurde in eine Abteilung zusammengelegt. Erste Veranstaltungen: Gratis-Paella für das ganze Dorf und Boxkampf-Spektakel statt Theater.

"Noch habe ich die Hoffnung, dass es bei den Wahlen erneut zu einer progressiven Mehrheit kommt", spricht sich Vanesa Martínez selbst Mut zu. Die 47-Jährige ist die künstlerische Direktorin des Teatro de Fondo, das Orlando in Valdemorillo aufführen sollte. "Bevor der PP mit Vox regierte, hatten wir nirgendwo Probleme. Wo aber der PP mit Vox regiert, geht das Kulturamt an Vox", weiß sie und fürchtet, dass in immer mehr Gemeinden die Kultur zensiert wird.

Vanesa Martínez, Direktorin des Teatro de Fondo, mit einen Schauspieler
Vanesa Martínez, Direktorin des Teatro de Fondo, mit einen Schauspieler: "Ich möchte nicht in einem Land leben, das von rechts außen regiert wird."
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Auswandern?

Die Sorge ist berechtigt: So wurde der 3D-Computeranimationsfilm Lightyear in einem Ort im Nordwesten Spaniens aus dem Programm des Sommerkinos genommen, weil sich darin zwei Frauen küssen. In einem anderen Dorf darf ein Theaterstück über einen Lehrer, der in den 1930er-Jahren von den Faschisten hingerichtet wurde, nicht gezeigt werden. In einem Ort nahe Madrid verlangt Vox, dass "sexuelle Szenen" aus einem Stück von Lope de Vega aus dem 17. Jahrhunderts gestrichen werden.

"Manchmal denke ich ans Auswandern. Ich möchte nicht in einem Land leben, das von rechts-außen regiert wird", sagt Martínez nachdenklich. Doch wohin? Die Antwort darauf fällt ihr im heutigen Europa immer schwerer. (Reiner Wandler aus Madrid, 23.7.2023)