Das Musikzimmer von Alice und Josef Morgensterns
Das Musikzimmer von Alice und Josef Morgensterns: mit Steinway-Flügel und Egon Schieles Gemälde an der Wand, das 2020 aus dem Belvedere restituiert wurde.
Belvedere, DER STANDARD Bildbear

Kleine Denkmäler von großem symbolischem Wert: So lassen sich die "Steine der Erinnerung" charakterisieren, die vom gleichnamigen Verein seit einigen Jahren in Gehsteige vor ehemaligen Wohnorten deportierter Wiener Jüdinnen und Juden eingelassen werden. "Hier wohnte Dr. Josef Morgenstern", ist auf der 20 mal 20 Zentimeter großen Messingtafel zu lesen, die kürzlich in der Apfelgasse 3 in Wien-Wieden verlegt wurde.

Geboren am "6.6.1886", "Am 9.9.1942 nach Auschwitz deportiert", "Im Holocaust ermordet": Knapper lässt sich ein solches Schicksal wohl nicht beschreiben. Das seiner Ehefrau Alice, die das NS-Regime in Brüssel als U-Boot überlebte und 1970 völlig verarmt in einem Altersheim verstarb, blieb dagegen ungewürdigt. Aufgrund der schieren Anzahl Ermordeter, so informierte man den Initiator im Vorfeld, würden solche Steine nur für direkte Opfer des Holocausts verlegt. Eine Usance, die der Verein auf STANDARD-Anfrage bestätigt.

Gedenktafel:
Anders als Josef Morgenstern, der nach Auschwitz deportiert und am Tag seiner Ankunft ermordet wurde, überlebte Alice Morgenstern den Holocaust als U-Boot in Brüssel.
G. Pittner

Recherche eines Hausbewohners

Nicht angemessen für eine Vertriebene, zumal sie in der Shoah nicht nur ihren Ehemann, sondern auch ihren Schwager und ihre drei Schwestern verlor, merkt Gerald Gurresch-Pittner an. Ende 2019 war der Anlageberater nach einem längeren Auslandsaufenthalt zurück nach Wien übersiedelt. Gemeinsam mit seiner Familie bezog er eine Wohnung in diesem Haus. Dass er sich mit ehemaligen Bewohnern zu befassen begann, war einem Zufall geschuldet. Im Sommer 2021 traf seine Ehefrau vor dem Haus auf ein Ehepaar aus Berlin, das sich umsah und das Gebäude fotografierte. Man kam ins Gespräch. Demnach sei der verstorbene Vater 1942 als Jude an dieser Adresse zwangsuntergebracht gewesen.

Gurresch-Pittners versprachen, sich zu erkundigen. In historischen Adressbüchern fanden sie die Namen ehemaliger Bewohner, darunter auch jene von Alice und Josef Morgenstern. Eine Google-Suche lieferte Gerald Gurresch-Pittner auch einen STANDARD-Bericht mit einigen Details aus dem Leben des Ehepaars. Anlass für den Artikel vom März 2020 war die bevorstehende Entscheidung des Kunstrückgabebeirates zur Restitution eines Gemäldes aus dem Belvedere gewesen: Egon Schieles Vier Bäume (Herbstallee) von 1917.

Der Schiele in der Beletage

Ein Gänsehautmoment, erinnert sich der 52-Jährige. Denn dieses Bild kannte er besser als jedes andere Kunstwerk: aus seiner Zeit als Gymnasiast in der Stubenbastei, als er es bis in das kleinste Detail studierte, um es – der Aufgabenstellung in "bildnerischer Erziehung" folgend – nachzumalen. Das Ergebnis habe er noch irgendwo verwahrt. Und nun las er, dass das Original bis zum "Anschluss" drei Stockwerke unterhalb in der Beletage gehangen war.

Der einstige Besitzer Josef Morgenstern war als Handelsagent sowie Prokurist für das Bankwesen und die Stahl- und Röhrenbranche zu einigem Vermögen gelangt. 1922 erwarb er das Mietshaus Apfelgasse 3 und beauftragte den Architekten Otto Bauer mit der Ausstattung jener Wohnung, die er im April 1923 gemeinsam mit seiner Ehefrau Alice bezog. 1924 publizierte eine deutsche Zeitschrift einige Aufnahmen des Interieurs anonymisiert: Demnach hing das Schiele-Gemälde über dem Kamin im Musikzimmer.

Die Identifikation als Wohnung des Ehepaars Morgenstern machte die Architekturhistorikerin Iris Meder 2008 öffentlich: relevant für die spätere Rekonstruktion der Provenienz des Gemäldes, das die Österreichische Galerie (Belvedere) 1943 für 8000 Reichsmark ankaufte.

Bild
Vor ihrer Flucht vor dem NS-Regime im Sommer 1938 überließen die Morgensterns Schieles "Vier Bäume" (1917) einem befreundeten Rechtsanwalt. 1943 gelangte es über einen Ankauf aus dem Kunsthandel in den Bestand der Österreichischen Galerie.
Belvedere

Restitution folgt Verkauf

Zu diesem Zeitpunkt war Josef Morgenstern bereits in Auschwitz ermordet worden, und seine Witwe lebte versteckt in Brüssel. Das Mietshaus auf der Wieden hatten sie bereits Anfang der 1930er-Jahre verkauft, sich jedoch ein Wohnrecht für die Beletage gesichert, dessen Löschung der spätere Ariseur der Liegenschaft 1939 erfolgreich einklagte.

Das Ehepaar war im August 1938 vorerst nach Jugoslawien geflüchtet. Teile ihres Haushalts, darunter der Steinway-Flügel aus dem Musikzimmer, hatten sie zuvor unter Wert verkaufen müssen – das Bild von Egon Schiele jedoch dem befreundeten Familienanwalt Robert Röhrl zur Verwahrung überlassen. 1948 vertrat Röhrl Alice Morgenstern im Todeserklärungsverfahren ihres ermordeten Ehemanns – dass er den "Schiele" verkauft hatte, behielt er für sich. Laut einem Beitrag im Lexikon für Provenienzforschung erfuhr sie erst 1959 vom Verbleib des Bildes, als es im Rahmen zweier Ausstellungen der Österreichischen Galerie in Luxemburg und in Belgien zu sehen war.

Im März 2020 empfahl der zuständige Beirat die Restitution an die von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien vertretenen Erben nach Alice und Josef Morgenstern. Anfang September desselben Jahres wurde das Gemälde aus dem Inventar des Museums ausgetragen und wechselte über einen Privatverkauf in unbekannten Besitz. Den Wert des Bildes hatten Experten zuvor mit einer Größenordnung von etwa 30 Millionen Euro beziffert. (Olga Kronsteiner, 21.7.2023)