Der Tiktok-Salafist Ibrahim El-Azzazi.
Salafistische Prediger wie Ibrahim El-Azzazi beantworten auf Tiktok allerlei Fragen. Es geht nicht immer um Religion. Manchmal auch um die bessere Eisteesorte. Das lässt die Kanäle der Salafisten zunächst unverfänglich wirken. Ihr ultrakonservatives Weltbild ist aber davon nicht weit entfernt.
Tiktok-Screenshot

Es sind die kleinen und zugleich immens großen Fragen des Alltags muslimischer Jugendlicher: "Darf ein Mann eine Halskette tragen?", lautet etwa eine. Eine andere: "Ist Oralverkehr erlaubt?" Oder: Geht Schweinefleisch wirklich gar nicht, und spricht etwas gegen einen Fish-Mac?

In den Social Media suchen junge Muslimminen und Muslime vermehrt Beratung, wie sie sich mit ihrem islamischen Glauben durch eine christlich-westlich geprägte Gesellschaft navigieren können. Vor allem in kurzen Videos auf Tiktok bekommen sie Antworten. Allzu oft landen sie dabei bei Accounts, die zunächst harmlos wirken, aber Türöffner zu einer Welt sind, in der junge Menschen schnell in die Radikalität abdriften können.

Einer davon gehört Ahmad Armih alias Ahmad Abul Baraa. Baraa ist ein in Deutschland lebender Prediger palästinensischer Abstammung. Er ist Anfang fünfzig, sein genaues Alter nennt er nicht. Baraa hat sich im gesamten deutschsprachigen Raum mittlerweile zu einer prominenten Autorität in Islamfragen entwickelt. Seine Videos flimmerten auch über den Bildschirm des Handys jenes 14-Jährigen, der als Teil einer dreiköpfigen Gruppe mutmaßlicher Jihadisten im Verdacht steht, einen Terroranschlag auf die Wiener Regenbogenparade geplant zu haben. So erzählte es der Beschuldigte selbst in seiner Polizeieinvernahme. Baraa und andere deutsche Salafisten verfügen inzwischen auch in Österreich über eine beachtliche Reichweite.

Salafistische Influencer auf Tiktok: Das Y-Kollektiv aus Deutschland hat bereits eine längere Dokumentation zum Thema veröffentlicht.

Salafisten stellen eine kleine Minderheit innerhalb des Islams dar. Ihre Ideologie gilt als extremistisch, sie beruft sich auf die Ideen eines Rechtsgelehrten aus dem Mittelalter. Diese radikale Interpretation dient oftmals als geistiger Nährboden für den bewaffneten Kampf von Jihadisten. Jene jungen Europäerinnen und Europäer etwa, die sich ab 2014 aufmachten, um sich in Syrien der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) anzuschließen, stammten größtenteils aus dem salafistischen Spektrum. Das Internet spielte bei ihrer Radikalisierung eine wichtige Rolle.

Baraa war einmal Prediger in einer inzwischen geschlossenen Berliner Moschee, die einer der wichtigsten Anlaufpunkte der salafistischen Szene in Deutschland war. Der spätere IS-Terrorist Denis Cuspert alias Rapper "Deso Dogg" trat dort ebenfalls auf. Baraa ist heute in einer Moschee in Braunschweig, Niedersachsen, aktiv, in der auch salafistische Größen wie Ibrahim El-Azzazi oder Pierre Vogel auftreten. Alle drei werden vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet. Auch in Österreich sind sie nicht unbekannt.

Urlaub und Augenbrauen

Das Erfolgsrezept von Tiktok-Salafisten wie Baraa ist simpel. Junge Muslime stellen ihnen Fragen. Manche davon picken die Prediger heraus und beantworten sie – auf Deutsch, zwischendurch werfen sie arabische Begriffe ein wie "Fisq", die Bezeichnung für Menschen, die islamisches Recht brechen.

In einem seiner neuesten Videos widmet sich Baraa etwa unter dem Hashtag "Islam" oder "For you" folgender Thematik: "Dein Urlaub – Genuss oder Strafe?". Mit dieser eingeblendeten Frage beginnt die Aufnahme, ehe Baraa eine eineinhalbminütige Antwort darauf gibt: Der Strand sei nicht das Problem, das Wasser auch nicht, die Fische ebenso wenig. "Das Problem ist", sagt Baraa mit erhobenem Arm und Zeigefinger, "dass du in einem Umfeld bist, wo die Leute nackt sind, ohne dass sie Allah Subhana Wa Taala nur irgendeine Aufmerksamkeit schenken" – also Allah, dem Baraa eine zusätzliche Lobformel hinzufügt. Er trägt einen dunklen Rauschebart, eine schwarze Gebetsmütze und einen weißen Kaftan. Im Hintergrund laufen sanfte Hintergrundgesänge. Als vermeintliche Probleme an Stränden zählt er auf: das "nackte Fleisch, sowohl von Männern als auch von Frauen", "manchmal auch Alkohol, und das nicht gering", "Frevel" und "öffentliche Sünden".

Ein Video des Salafisten-Predigers Abul Baraa auf einem Tiktok-Account. 
Die Videos von Abul Baraa kursieren mittlerweile auf vielen unterschiedlichen Tiktok-Accounts.
Tiktok-Screenshot

Baraa spricht mit ruhiger Stimme, er gestikuliert viel und hat stets ein Lächeln auf den Lippen, das irgendwo zwischen wissend und belehrend schwankt. Er zählt knapp 43.000 Follower auf Tiktok, auch auf Instagram und Youtube ist er präsent. Das Video mit der Urlaubsfrage zählte zu Redaktionsschluss über 13.000 Views, darunter wurde etwa das Wort "Haqq" gepostet, was auf Arabisch "Wahrheit" bedeutet – oder Emojis, die die Kaaba zeigen, das Gebäude mit dem Schwarzen Stein im Hof der Moschee in Mekka, das zentrale Heiligtum des Islam. Ein User schreibt: "Kurz bevor ich losfliege, sehe ich dieses Video." Jemand antwortet: "Ist Zeichen, akhi", also: "Bruder".

Baraa macht in den Aufnahmen einen gestrengen, aber auch netten Eindruck – mehr Kumpel als radikaler Prediger. Er kann auch humorvoll sein. Etwa als er in einer Moschee gefragt wird, ob das Rasieren der Augenbrauen erlaubt sei: "Die waren doch vorher da, warum machst du die ab und ziehst sie dann nach?", fragt er belustigt in die Runde.

"Manche Fragen sind komisch, fast absurd", sagt der Soziologe Kenan Güngör. "Das hat Unterhaltungswert, so kommt man schneller rein als bei einer klassischen Predigt." Hinzu komme, dass Salafisten wie Baraa nicht aus der arabischen Welt kämen. "Sie sprechen ungefähr den gleichen Sprech der Jungen, kennen ihre Lebenswelten", sagt der Integrationsexperte Güngör. Das schaffe Nähe. Zugleich zitieren die Prediger aus dem Arabischen, was ihnen ein geistliches Ansehen verleihe. Videos darüber, ob Pfirsich oder Zitrone die bessere Eisteesorte ist, lassen manche ihrer Kanäle zunächst unverfänglich wirken. Der Weg zum ultrakonservativen Gedankengut ist dann aber nicht mehr weit.

Absolute Ge- und Verbote

Das liegt auch an der Art und Weise, wie der Algorithmus in den Social Media funktioniert. Wer länger auf Baraas Accounts verweilt, bekommt bald auch von anderen Menschen hochgeladene Aufnahmen des Predigers zu sehen. Ein Video zeigt ihn in aufgebrachter Stimmung: "Schäm dich", ruft Baraa seinen Zuhörern darin zu. Die "Kuffar", die Ungläubigen also, "gehen in unsere Länder rein und töten die Muslime, und du bist derjenige, der sie noch liebt. Sie töten deine Schwester, sie töten deinen Vater, sie vergewaltigen deine Schwester."

Güngör erkennt in dieser Rhetorik eine West-Feindlichkeit, die einem Aufruf, sich an "Gottlosen" zu rächen, zumindest nahekomme. Und er sieht einen "absoluten Totalitätsanspruch", den er für "grundsätzlich problematisch" hält: "Diese Logik, dass es absolute Gebot und Verbote gibt, führt dazu, dass nichts mehr hinterfragt wird."

Die Tiktok-Salafisten richten sich aber nicht nur an bereits praktizierende Muslime. Sie bieten auch ein Online-Konvertierungsprogramm an, das via Smartphone absolviert werden kann. Auch Pilgerreisen nach Saudi-Arabien haben sie im Angebot – mit Vogel oder Baraa als Reisebegleiter. (Anna Giulia Fink, Jan Michael Marchart, 21.7.2023)