Marco Pantani gewann 1998 die Tour de France.
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Die schwierigste Frage ist und bleibt: Was wäre, wenn? Das gilt auch für das Leben von Marco Pantani. Nein, das gilt vor allem für das Leben von Marco Pantani. Italienische Darwinisten würden sagen: "Acqua passata non macina più." Vorbeigeflossenes Wasser mahlt nicht mehr. Und aus. Seit seinem einsamen Tod am 14. Februar 2004 im Zimmer 5D des Hotels Residence Le Rose in Rimini ist viel Wasser über die Mühlräder geflossen. Es ist das Ende einer Geschichte, die so viele Anfänge wie Höhepunkte, aber auch Tiefpunkte hatte. Bei Pantani verschwimmen die Grenzen, nahezu jeder Meilenstein seines Lebens, seiner Karriere als Radsportler trägt auch einen Hauch von Tragik mit sich.

Rein sportlich liegt der absolute Höhepunkt 25 Jahre zurück: 1998 holt der drahtige Mann aus Cesenatico in der Provinz Emilia-Romagna den Gesamtsieg bei der Tour de France. Einige Wochen zuvor gewann er den Giro d’Italia. Bis heute ist Pantani der letzte Radsportler, dem das gelang. Doch auch der Schatten über seinem Erfolg zieht sich bis heute: Später wurde bekannt, dass Pantani ebenso wie der zweitplatzierte Deutsche Jan Ullrich und der Dritte Bobby Julich aus den USA mit Epo gedopt hatte. Mit dem Festina-Skandal gilt die Frankreich-Rundfahrt 1998 noch heute als die "Tour der Schande".

Mehr Kreisverkehre als das Burgenland

Was wäre, wenn er sauber gewesen wäre? Eine Frage, die einen Großteil des professionellen Radsports der 1990er-Jahre umfasst, der seither um Image und Glaubwürdigkeit kämpft. Also anders gefragt: Was wäre, wenn Pantani die zehnte Etappe am 21. Juli 1998 von Pau nach Luchon gewonnen hätte und anschließend – wie er später angab – nach Hause gefahren wäre? Hätte er vielleicht selbst seinen Aufstieg gebremst und das tragische Ende mit einer Überdosis Kokain verhindern können?

Pantanis Leben hat mehr Kreisverkehre als das Burgenland. Es war eine Achterbahnfahrt der Emotionen, begleitet nur von wenigen engen Vertrauten. Zig Unfälle und Tiefschläge waren da. Eine Achterbahn, die nicht nur in Tälern ankam, sondern immer wieder entgleiste und frontal gegen eine Mauer donnerte. Viele halten ihn noch heute für einen der besten Bergspezialisten aller Zeiten. Trotz aller Debatten über seine Person hat Italien noch immer ganz viel Amore für Marco Pantani.

Kein Kicker

Pantani wurde am 13. Jänner 1970 in Cesena geboren, wuchs mit den Eltern Fernandino, genannt Paolo, Tonina und der älteren Schwester Manola in der adriatischen Küstenstadt Cesenatico auf. Der Vater war Installateur, die Mutter Reinigungskraft und Zimmermädchen in den hiesigen Hotels. In der Pantani-Biografie des Journalisten Matt Rendell, The Death of Marco Pantani, erinnert sich Mutter Tonina an den kleinen Marco: "Marco liebte das Fischen und das Jagen. Er hatte außerdem eine besondere Beziehung zu Kindern und älteren Menschen." Einerseits war da sein Großvater Sotero und andererseits Nachbar Guerrino Ciani. Ciani war früher selbst Radsportler und Gründungsmitglied des lokalen Radvereins "Gruppo Cicloturistico Fausto Coppi", benannt nach der italienischen Radsportlegende Fausto Coppi, il Campionissimo, der Meister der Meister.

Sportbegeisterte Buben hatten in Cesenatico zu jener Zeit die etwas begrenzte Auswahl: Fußball oder Radfahren. Marco entschied sich vorerst für den Fußball. Ein ehemaliger Klassenkamerad erinnert sich in der Biografie: "Er war kein guter Fußballer, sehr eigensinnig." Der Radsport passte da besser, über Ciani und dessen Schwiegersohn Nicola Amaducci trat er 1982 dem "Fausto Coppo" bei.

Der Zug nach oben

Schon früh offenbarte der junge Pantani vor allem in den Anstiegen einen unnachahmlichen Stil und einen immensen Zug nach oben. Die Ausgangslage war egal, sobald Pantani zu seinen Attacken ansetzte, ließ er den Rest stehen. Seine ungewöhnliche Position auf dem Rad wurde später sein Markenzeichen: Bei einem Angriff umfasste er den unteren Teil des Lenkers, um sich stehend auf den Pedalen explosiv in den Anstieg zu werfen. Immer und immer wieder. Kein Gnade.

1983 fuhr er sein erstes Rennen auf einem Leihrad des Klubs. Das erste eigene Rad erstanden Opa Sotero, Papa Paolo und Marco in der Vicini-Fabrik außerhalb von Cesena. Ein metallisch rotes "Tour de France"-Gerät um 290000 Lire (149 Euro). Pantani machte sich im Jugendbereich einen Namen, gewann 1984 sein erstes Rennen, später kollidierte er mit einem LKW, brach sich die Nase. Von diesem Unfall blieb eine Narbe über der Oberlippe Pantanis. Die Jugendjahre waren überhaupt durchwachsen, denn schon früh bemerkte er, dass sich das Haupthaar zunehmend lichtete. In einer Gesellschaft, in der Ästhetik eine wichtige Rolle spielte, war die drohende Kahlheit für einen Heranwachsenden ein hartes Los. Der Bub aus Cesenatico galt als zurückhaltend, sensibel. Später rasierte er sich den Kopf, ließ sich einen Bart wachsen: il pirata, der Pirat.

Am "Roten Gürtel"

Pantani wechselte 1989 mit 19 Jahren zum kommunistisch geprägten Rennstall Rinascita nach Ravenna, seine Amateurkarriere spielte sich fast ausschließlich am "Roten Gürtel" in Mittelitalien (Marken, Toskana, Umbrien und der Emilia-Romagna) ab, dann ging es weiter zum Team Giacobazzi. 1990 wird er beim Giro d’Italia für Amateure Dritter, 1991 Zweiter, und am 27. Juni 1992 gewann er den "Girobio". Drei Tage später verstarb sein Großvater Sotero. Im selben Jahr unterschrieb er seinen ersten Profivertrag beim Team Carrera – ein Aufstieg, der bei Pantani Spuren hinterließ. Zu Mutter Tonina, die schon Jahre zuvor ein Kiosk eröffnete, soll er gesagt haben: "Der Profiradsport ist wie eine Mafia. Ich komme zu dir zurück und verkaufe Piadine." Was wäre, wenn ...

Er blieb im Profisport. Mit Carrera war Pantani in Griffweite der Sterne, zwischen 1992 und 1996 stand er beim italienischen Rennstall unter Vertrag. 1994 stieß der Österreicher Peter Luttenberger zum Team. Er erinnert sich heute an Pantani: "Er war schon damals eines der Aushängeschilder, hatte aber keine Starallüren, war nahbar." Und schon damals "sah man, dass er ein außergewöhnliches Talent besaß", sagt Luttenberger dem STANDARD. 1994 gewann Pantani seine ersten zwei Etappen beim Giro, ließ im Gesamtklassement den Spanier Miguel Indurain, den überragenden Radsportler dieser Zeit, hinter sich.

Und doch war Pantanis Verhältnis zum Radsport ambivalent, wie so vieles in seinem Leben: "Ich hasse das Rad, aber ich bin sicher, dass es mir das Leben ermöglicht. Wenn ich 30 bin, will ich aufhören", sagt er einmal. Und: "Ich liebe die Berge, aber die Anstrengung erfüllt mich mit tiefem Hass. Also versuche ich das Leiden so kurz wie möglich zu halten." Bekanntheit und Druck wuchsen stetig an. 1995 holte er bei der Straßen-WM in Kolumbien Bronze, später wuchtete er sich in Rekordzeit bei der Tour auf den legendären Alpe d'Huez - er hält seither den Rekord mit 36:50 Minuten. Es war ein starkes Jahr des aufstrebenden Piraten - bis ein Nissan Patrol die Karriere fast zunichtemachte. Nach dem schweren Unfall beim Milan-Turin-Rennen (die Polizei sperrte das Rennen nicht ausreichend vom Verkehr) zum Saisonabschluss wurde bezweifelt, dass Pantani jemals wieder ein Radrennen bestreiten könnte.

Die Bilder Pantanis im Krankenbett sorgten für Schlagzeilen, die Nation verfolgte seine Reha, zitterte mit ihm um seine Karriere. Pantanis Beziehung zur Öffentlichkeit, vor allem zu den Medien, hatte sich etwas entspannt, die Antipathie wie zu Beginn seiner Karriere wich immer mehr. Neben dem Fischen und Jagen mochte Pantani vor allem eines: Karaoke. Musikjournalist Gabriele Ansaloni verschaffte Pantani einen Auftritt in seiner TV-Show Roxy Bar. Am 30. Dezember 1995 sang der Pirat den Song Io vagabondo von der Rock Band I Nomadi.

Io un giorno crescerò
(Eines Tages werde ich erwachsen)
E nel cielo della vita volerò
(Und in den Himmel des Lebens werde ich fliegen)
Ma un bimbo che ne sa
(Aber ein Kind, das es weiß)
Sempre azzurra non può essere l'età
(Das Alter kann nicht immer blau sein)
Poi una notte di settembre mi svegliai
(Dann wachte ich eines Nachts im September auf)
Il vento sulla pelle
(Der Wind auf der Haut)
Sul mio corpo il chiarore delle stelle
(Auf meinem Körper das Licht der Sterne)
Chissà dov'era casa mia
(Wer weiß, wo mein Haus war)
E quel bambino che giocava in un cortile
(Und dieser kleine Junge, der in einem Hof spielt)
Io, vagabondo che son io
(Ich, der Wanderer, der ich bin)
Vagabondo che non sono altro
(Wanderer, der ich bin)
Soldi in tasca non ne ho
(Ich habe kein Geld in meiner Tasche)
Ma lassù mi è rimasto Dio
(Aber dort oben blieb Gott für mich)

Es war nicht perfekt, aber Pantani begeisterte vor allem bei seinem Gespräch mit Ansaloni, der sich, nachdem er einige Verletzungen aufzählte, an seinen Gast wandte: "Sind Sie sicher Radrennfahrer und nicht Motorradfahrer?" Pantani antwortete: "Es gab noch viele viele mehr, aber das ist normal." Und fuhr fort: "Ich denke jeder hat während seiner Karriere das eine oder andere Problem. Aber glücklicherweise bin ich noch hier, unter Freunden und ich genieße es. Ich würde mich also als glücklichen Mann bezeichnen."

Heiße Kartoffel

Der Pirat kämpfte sich zurück und sorgte beim Giro 1998 für eine Sternstunde des italienischen Sports, als er, mittlerweile im Team Mercatone Uno, in einer packenden 18. Etappe auf den Montecampione den Russen Pavel Tonkov stehen ließ und sich in weiterer Folge den Giro und endgültig die Herzen Italiens sicherte: "Forza, Pantani!"

Giro '98. Cavalese -- Plan di Montecampione -- Telecronaca integrale 9/9
Giro '98. Cavalese -- Plan di Montecampione -- Telecronaca integrale 1/9
MickyDe28

Die Tour de France startete 1998 mit einer Woche Verspätung, da sich Frankreich in diesem Sommer im eigenen Land zum Fußballweltmeister krönte. Für Pantani freilich ein Glücksfall, der sonst so knappe Zeitintervall zwischen Giro und der Frankreichrundfahrt wurde ausgedehnt. Favorit war mitunter Vorjahressieger Ullrich, dem die zusätzliche Woche Vorbereitung ebenfalls in die Karten spielte. Der Deutsche nutzte die Zeit um abzuspecken und sein Körpergewicht auf 71 Kilogramm zu reduzieren.

Mit Erfolg: Im ersten großen Zeitfahren fuhr er vier Minuten Vorsprung auf Pantani heraus. Der Italiener sah seine Chancen auf den Gesamtsieg nicht einmal aufleuchten. Und doch kam alles anders: Ullrich brachte seine Führung bis in die Alpen, als schließlich die große Stunde des Piraten schlug. Auf der Königsetappe nach Les Deux Alpes büßte Ullrich seinen Vorsprung ein, kam mit 8:57 Minuten Rückstand hinter Tagessieger Pantani ins Ziel. Der Italiener ließ sich den Gesamtsieg nicht mehr nehmen. Die großen Feierlichkeiten beim Team, Pantani und in Italien legten richtig los. Das große Ziel war erreicht, eine neue Legende geschrieben.

Ullrich vs. Pantani bei der Tour de France.
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Das Ende

Der Sieg bei der Tour war die Krönung. Pantani galt als der beste Radfahrer der Gegenwart. Bis seine Bluttests beim Giro 1999 in Madonna di Campiglio einen erhöhten Hämatokritwert aufwiesen. Der gesamtführende Pantani wurde zwei Wochen gesperrt, ließ die folgende Tour aus und gab beim Giro 2000 sein Comeback. Bei der anschließenden Tour konnte er zwei Etappen gewinnen. War Pantani wieder einmal zurück? Bei einer Razzia beim Giro 2001 wurde eine Insulinspritze beim gefallenen Engel gefunden, er wurde für sechs Monate gesperrt. Jahre später wurde bekannt, dass Pantani wohl über einen längeren Zeitraum gedopt haben dürfte. Das Ende war spätestens damit eingeläutet, dass er 2003 nicht zur Tour zugelasen wurde. Alles zerbrach. Pantani litt unter schweren Depressionen und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, die ihn fallenließ wie eine heiße Kartoffel. Er flüchtete in eine Einsamkeit, eine Paranoia und eine immer ausgeprägtere Kokainabhängigkeit.

Pantanis Leben ist neben seinem Schicksal eine Parabel auf die Veränderung des Radsports, auf den öffentlichen Druck, auf Prominenz, Kommerz und ein Land, das nach Helden gierte. Und immer wieder bleibt die Frage: Was wäre, wenn? (Andreas Hagenauer, 22.7.2023)