Michael Armitage
Die Bilder von Michael Armitage berücken nicht nur durch Farbpracht und Dynamik. Sie verschmelzen auch Rituale, Ereignisse und Alltagsszenen mit subjektiven Fantasien.
Markus Tretter/Michael Armitage

Es könnte für einen Künstler in seinen Dreißigern wahrhaft schlechter laufen: Eine große Museumsschau jagte zuletzt die nächste, seine Werke landeten in den Sammlungen bedeutender Museen vom Guggenheim über das Metropolitan Museum bis zur Tate Gallery. 2019 war er auf der Venedig-Biennale zu Gast, kurz darauf knackte eines seiner Gemälde bei einer Sotheby’s-Auktion in New York die Eine-Million-Dollar-Marke. Dass Michael Armitage jüngst auch den Auftrag erhielt, die britische Ein-Pfund-Münze zu gestalten: ebenfalls keine Kleinigkeit, zumindest was die Symbolkraft betrifft.

Der 1984 in Nairobi geborene Sohn einer Kenianerin und eines Briten gilt als einer der wichtigsten Exponenten der Gegenwartsmalerei. Nach seinem Abschluss an der Royal Academy in London startete Armitage eine recht steile Karriere. Allüren scheint er sich auf dem Weg nach oben nicht zugelegt zu haben, darauf lässt jedenfalls sein sehr entspanntes Auftreten im Kunsthaus Bregenz schließen.

Erste umfassende Schau in Österreich

Am Bodensee ist derzeit die erste umfassende Präsentation des Künstlers in Österreich zu sehen, sie heißt Pathos and the Twilight of the Idle, das gleichnamige Gemälde entführt in eine Szenerie zwischen Traum und Tränengas. Die zentrale Figur im Bikini-Top trägt Dosen und Schleudern bei sich, als sei sie unterwegs in eine Straßenschlacht. Unruhe lodert aus dem Figuren- und Farbendickicht ihrer Umgebung auf. Am oberen Bildrand erkennt man einen wie auf einem altmeisterlichen Altarbild aufgebahrten Mann.

Tatsächlich ist es Hans Holbeins Der Leichnam Christi im Grabe, der hier Pate stand. Auch andere Anleihen aus der europäischen Kunstgeschichte tauchen auf, Armitage lässt sie in seinen opulenten Großformaten mit ostafrikanischen Kunsttraditionen, mit Mythen und mit postkolonialen Realitäten verschmelzen. Immer wieder spiegelt er dabei auch den kolonialen, exotisierenden Blick – um kraftvoll dagegenzuhalten. Eine Umkehr der Verhältnisse ergibt sich daraus noch nicht zwangsläufig. Die somnambulen Bilderzählungen lassen sich aber als Kommentar auf fragile Balancen und damit auf ein kaum weniger virulentes Thema lesen.

Macht und Politik

Wenn sie im Geäst eines Baumes kauern, scheinen aber auf einmal alle Menschen gleich, jene aus Francisco de Goyas auf die politischen Verhältnisse im Spanien des frühen 19. Jahrhunderts rekurrierender Radierung Disparate ridiculo (Lächerliche Torheit) und diejenigen, die in Nairobi einer politischen Großkundgebung lauschen. The Fourth Estate, so der Titel dieser Arbeit, ist Teil einer Werkserie, die Armitage unter dem Eindruck der umstrittenen und von Unruhen begleiteten kenianischen Parlamentswahlen von 2017 geschaffen hat. Macht- und damit auch soziopolitische Verhältnisse, die Beziehung zwischen Volk und politischen Führern: Das seien Themen, die ihn interessierten, sagt Armitage.

Er zieht daraus mitunter surreal wirkende Schlüsse und macht Narben sichtbar, was auch an dem von ihm verwendeten Malgrund liegt: "Lubugo" nennt sich der Stoff, der aus der Rinde des ugandischen Feigenbaums gewonnen wird und den der Künstler zu riesigen Formaten vernäht. Naht- und auch Leerstellen bleiben unter der Malschicht sichtbar. Seit kurzem lebt Armitage mit Frau und Kind auf der indonesischen Insel Bali, aber auch noch in Nairobi, wo er, wie er erzählt, in Schulen für Straßenkinder unterrichtet hat. Für sie sei das Schnüffeln an Klebstoff oft die einzig mögliche Flucht vor dem Hunger und aus der harten Realität. Auch darauf bezieht sich der Künstler in einem seiner Gemälde, deren beunruhigende Wirkung sich auch aus ihrer Mehrdeutigkeit speist.

Dass Armitage es ernst meint mit der Umkehr der Perspektive und der Erweiterung des Blicks, zeigte sich 2020 in seiner großen Schau im Münchener Haus der Kunst, in die er Arbeiten ostafrikanischer Künstlerinnen und Künstler integrierte, die Einfluss auf seine Entwicklung hatten. Mit dem Nairobi Contemporary Art Institute gründete er in Kenias Hauptstadt außerdem eine gemeinnützige Einrichtung zur Förderung zeitgenössischer Kunst. Im Kunsthaus Bregenz sind derzeit nicht nur großformatige Gemälde, sondern auch Zeichnungen des Künstlers zu sehen. (Ivona Jelcic, 25.7.2023)