Knapp zehn Millionen Menschen leben in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Die 25 Bezirke verteilen sich auf 605,5 Quadratkilometer. Man lebt hier – mit über 16.000 Menschen pro Quadratkilometer – recht eng aneinander. Nach dem Ende des Koreakriegs 1953 wuchs die Stadt rasant - und mit ihr auch die Mobilitätsbedürfnisse.

Seit 1998 zeichnet das Seoul Transport Operation and Information Service, kurz Topis, für die Verkehrsagenden verantwortlich. Diesen Namen trägt es aber erst seit 2005. Seine Wurzeln liegen in einem intelligenten Verkehrsmanagementsystem, das damals im Bezirk Namsan eingeführt wurde.

Mit Technik gegen die Blechlawine

Heute belegt Topis ein ganzes Stockwerk im Seouler Rathaus. Es ist für das Management des gesamten Stadtverkehrs verantwortlich. Und das bewältigt man unter massivem Technikeinsatz. Seit 2011 arbeitet man intensiv an der mittlerweile weit fortgeschrittenen Automatisierung. Für viele Aufgaben wird keine menschliche Intervention mehr benötigt.

Topis belegt ein Stockwerk im Rathaus von Seoul.
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Das soll in Zukunft auch verstärkt für den Verkehr selbst gelten. Seit 2020 strebt man Richtung Automatisierung des öffentlichen Nah- und privaten Individualverkehrs. Drei Testzonen gibt es mittlerweile für autonome Busse. Eine der automatisierten Linien hält in der Nähe des "blauen Hauses", des ehemaligen Präsidentschaftssitzes, der zum Museum umfunktioniert wurde. Ein viertes Testgebiet für selbstfahrende Öffis befindet sich in Vorbereitung.

Parkt jemand, wo er nicht sollte, fährt zu schnell oder ignoriert eine Ampel, stehen die Chancen nicht schlecht, dass er binnen weniger Tage ein Strafmandat bekommt. Topis erkennt derlei Verstöße und identifiziert die Sünder anhand ihrer Nummerntafeln. Informationen und Beweismaterial werden automatisch an die zuständigen Regionalbehörden übermittelt. Viele Bürger erhalten ihren Strafzettel in der Regel per App. Sind die regionalen Behörden nicht an das System angebunden oder der Empfänger nicht per App registriert, flattert er auf dem Postweg herein.

Verkehr in Seoul in den 1960er-Jahren.
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Mit Topis werden auch Unfälle und Staus automatisch erkannt, Warnungen ausgespielt und der Verkehr, wenn nötig und möglich, automatisch umgeleitet. Das Gleiche gilt für Probleme auf Öffi-Strecken. Das System kann auch einschätzen, wann Öffi-Fahrzeuge überfüllt sind, und spielt auch diese Information per App und Anzeigetafeln aus. Die gesammelte Informationsflut wird auch langfristig ausgewertet und dient dann zur Anpassung von Öffi-Linien sowie dem Ausbau des Netzes aus U-Bahnen, Bussen und Leihrädern. Bezahlt werden Öffis mit einer Karte (T Money), die auch in den meisten Taxis genutzt werden kann.

Verwaltet werden vom Rathaus aus auch mehrere "Green Transport Zones" in der Stadt. Dabei handelt es sich um Areale, in denen keine Fahrzeuge mit hohem Abgasausstoß verkehren dürfen. Wer mit einem solchen trotzdem durchfährt, wird ebenfalls im Nachhinein abgestraft.

Das nächste große Projekt von Topis und der Stadtregierung: flächendeckener autonomer Öffiverkehr.
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Exportschlager

Die Vorteile von Topis liegen auf der Hand. Der Verwaltungsaufwand wird reduziert, der Personalaufwand gesenkt und somit Kosten gespart. Für die Polizei bedeuten Dinge wie automatische Parkkontrollen und Umleitungen eine Entlastung.

Die Technologien, deren man sich bedient, sind auch ein Exportschlager. Seit 2010 werden sie exportiert und kommen in verschiedenen Metropolen zum Einsatz, um etwa die Bezahlung mit Smartcards umzusetzen, die bestehende Verkehrsverwaltung zu verbessern oder die Grundlagen für eine automatisierte Verkehrsverwaltung zu schaffen. Zu den Abnehmern zählen etwa Bogotá, Manila, Kairo, Bangkok, San Salvador und seit 2018 auch die ukrainische Hauptstadt Kiew. Seoul selbst will weltweit führend in Sachen Smart Mobility werden.

Die Effekte zeigen sich plakativ auch bei einem Blick ins Kontrollzentrum des Verkehrsservices in Seoul. Dort gibt es zwar riesige Bildschirme mit Liveaufnahmen und Daten nebst zahlreichen Computerarbeitsplätzen. Beim Vorortbesuch waren diese aber kaum besetzt. Personal rückt meist nur in diesen Raum aus, wenn etwas passiert, das menschliche Kontrolle und Entscheidungen verlangt.

Das System liefert viele Informationen in Echtzeit, darunter auch zu Ausfällen von Kameras und anderen Sensoren – hier etwa entlang einer "Green Zone".
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Flächendeckende Kameraüberwachung

Das auf Effizient getrimmte System hat aber seinen Preis, nämlich Privatsphäre. Seoul ist mit einem extrem dichten Netz an Überwachungskameras überzogen. Dank der Analyse von "Big Data" im Hintergrund und dem Einbezug vieler anderer Daten können die Aufnahmen automatisch und praktisch in Echtzeit ausgewertet werden, von einer präzisen Einschätzung der Geschwindigkeit bis hin zum schnellen Auslesen der Fahrzeughalterdaten über die Kennzeichenerfassung. Der Weg einzelner Fahrzeuge durch das Stadtgebiet lässt sich akkurat nachverfolgen.

Bei Öffis, Leihrädern und auch privaten Taxis läuft diese Nachverfolgung standardmäßig und nicht nur über Kameras, sondern auch über Navigationssatelliten. Die Standorte und die Geschwindigkeitshistorie der Taxis werden alle 2,5 Minuten aktualisiert.

Der Hauptraum der Verkehrsüberwachung.
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Es gibt durchaus öffentliche Diskussionen rund um den Datenschutz des Systems, dabei ist aber zu bedenken, dass der Stellenwert des Themas in Südkorea geringer ist als in den seit den Snowden-Aufdeckungen besonders sensibilisierten westlichen Ländern. Die Daten, die erfasst werden, haben stark schwankende Behaltedauer. Manche Aufnahmen müssen binnen einer Stunde gesichtet und nach Ablauf der Frist entfernt werden, andere kann man bis zu fünf Jahre aufbewahren.

"Der Computer macht keine Fehler"

Bei Topis selbst vertraut man der Technologie beinahe blind. Gefragt, wie häufig es zu "False Positives" bei der Erkennung von Unfällen oder Falschparkern kommt, lautete die Antwort: "Der Computer macht keine Fehler." Sollte aber jemand etwa aufgrund eines akuten medizinischen Problems einen Unfall verursachen oder eine andere Person als der Fahrzeughalter gefahren sein, würden die Strafen nach Vorlage von Beweisen fallengelassen bzw. der korrekten Person zugeschrieben.

Die Verkehrsverwaltung der südkoreanischen Hauptstadt wirft jedenfalls die Frage auf, wie weit man in unseren Breitengraden zukünftig bereit sein wird, eine Kompromittierung von Privatsphäre zugunsten der Effizienz und des Komforts einer smarten Stadt in Kauf zu nehmen. Denn ist die entsprechende Überwachungsinfrastruktur einmal da, bleibt sie es erfahrungsgemäß auch. Und zwischen dem Einsatz für Sicherheit und Verkehrsfluss und einem Szenario à la "Black Mirror" stehen dann letztlich nur noch die Intentionen jener, die mit diesem Werkzeug arbeiten. (Georg Pichler aus Seoul, 30.7.2023)