Protest vor dem Rammstein-Konzert im Berliner Olympia-Stadion Mitte Juli 2023.
Spricht eine Frau über ihre sexuelle Gewalterfahrung, trauen sich auch andere eher, mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen, weil man dann nicht mehr ganz alleine bloßgestellt ist.
EPA/HANNIBAL HANSCHKE

Angesichts der Vorwürfe gegen die Band Rammstein stellen sich einige die Frage, warum betroffene Frauen nicht früher von mutmaßlichen Übergriffen berichtet haben. Die Gründe dafür dürften, kurz und knapp, Scham und Schuld sein, sagt Ursula Kussyk, Leiterin der Frauenberatung bei sexueller Gewalt in Wien. Das bestätigen auch Zahlen. Vergleicht man die Anzahl von sexuellen Übergriffen – drei von vier Frauen haben diese bereits erlebt, fast jede dritte Frau hat sexuelle Gewalt erfahren – damit, wie viele Mädchen und Frauen über diese Erfahrungen sprechen, zeigt sich eine enorme Diskrepanz. Im Standard-Interview erklärt Kussyk, warum Sex immer noch ein Tabuthema ist, was alte Rollenbilder damit zu tun haben und warum frau so viel Mut braucht, um sich zur Wehr zu setzen.

STANDARD: Sexuelle Gewalt ist viel weiter verbreitet, als manche denken. Warum weiß man trotzdem so wenig darüber?

Kussyk: Weil es dabei um Sexualität und um strukturelle Gewalt gegen Frauen geht. Und das ist immer noch ein Tabuthema. In unserer Gesellschaft ist Sex zwar allgegenwärtig, auch das Gespräch darüber. Aber dabei geht es fast immer um Phantasmen. Über die reale Sexualität, wie sie abläuft, ob es schön war oder wehgetan hat, ob es vielleicht nicht freiwilllig passiert ist, darüber spricht man nicht. Deshalb fehlen vielen auch die Worte dafür.

STANDARD: Trotzdem sollte man meinen, Frauen zeigen sexuelle Gewalt an. Warum passiert das nicht oder erst Jahre später?

Kussyk: Aus Scham und aus Schuldgefühlen. Das hängt mit alten Rollenbildern zusammen, die Frau ist die zu Erobernde. Frauen begeben sich ja auch bewusst in Situationen, um überwältigt und erobert zu werden. Wenn dann etwas nicht so läuft, wie es sollte, missachten viele ihr eigenes Gefühl, sagen sich, das kann ja nicht sein. Und wehren sie sich doch, wird das oft kleingeredet. Die Konfrontierten tun es als Scherz ab, sagen, die Frau sei komisch oder hysterisch. Viele Frauen wissen auch gar nicht, wie sie sich zur Wehr setzen können.

STANDARD: Laut schreien zum Beispiel?

Kussyk: Kommt es zu einem Übergriff, passiert das oft wahnsinnig schnell und auch unvermutet. Bei weitem nicht alle Täter sind gewalttätig, man kann irgendwie gar nicht glauben, was einem da passiert, und schafft es nicht, sich zu wehren. Frauen versuchen oft, mit Freundlichkeit und versuchter Harmonie kritische Situationen aufzulösen. Gelingt das nicht, sind sie schnell hilflos, weil sie keine andere Strategie parat haben. Und auch wenn Frauen selbstbewusst auftreten und zum Beispiel laut werden, hilft das nicht immer. Es gibt auch Männer, die sich dann erst recht denken: Der zeige ich es jetzt aber.

STANDARD: Kann man Strategien lernen, um sich zu verteidigen?

Kussyk: Ja, aber die brauchen sehr viel Mut und auch Übung. Man fällt ja als Frau unangenehm auf, wenn man laut und womöglich aggressiv wird, das gilt als total unweiblich. Die Rundumstehenden nehmen es oft auch nicht so wahr, dass sich da eine Frau verteidigt, viele denken eher, die spinnt. Drum fällt es so schwer, die Stimme zu erheben und seinen Platz einzunehmen. Da hilft es, sich eine solche Situation zumindest einmal durchzudenken, womöglich im "Trockentraining" zu üben, wie das Gegenüber reagieren könnte. Sonst fehlt eben die Strategie.

STANDARD: Sie haben von Scham und Schuld gesprochen. Woher kommen die?

Kussyk: Viele Frauen geben sich selbst eine Teilschuld, denken sich: Warum bin ich mitgegangen? Habe ich ihn angelächelt vorher? Dann bin ich auch verantwortlich. Und dann schämt man sich auch alleine schon deswegen, weil man Opfer geworden ist. Das Umfeld reagiert ja vielfach auch ungläubig oder abwehrend. Viele machen auch die Erfahrung, dass ihnen zumindest eine Teilschuld gegeben wird, wenn sie von einem Übergriff erzählen. Das geschieht oft, weil das Umfeld selbst nicht weiß, wie es mit dem Berichteten umgehen soll.

STANDARD: Und warum werden die Berichte von betroffenen Frauen jetzt doch mehr?

Kussyk: Im Kopf wissen ja viele, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht alleine sind. Fängt eine Frau an, darüber zu sprechen, trauen sich auch andere eher, mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Weil man dann nicht mehr so alleine bloßgestellt ist. (Pia Kruckenhauser, 26.7.2023)