Wer nicht so bewandert in US-amerikanischer Esskultur ist, wird sich vielleicht schon gefragt haben, was eigentlich der Unterschied zwischen einem Donut und einem Bagel ist. In beiden Fällen handelt es sich um ein Gebäck mit einem Loch in der Mitte.

Tatsächlich sind Donut und Bagel das Gleiche, wenn man alle Eigenschaften außer der, ein Loch zu haben, ignoriert. Doch in diesem Sinn ist auch ein Gugelhupf das Gleiche wie ein Donut, ebenso wie (und jetzt müssen Sie stark sein) das Geschirrtuch, das an einem Haken neben dem Ofen hängt. Es besitzt genau die eine Öse, an der es hängt, und damit wie der Donut ein einziges Loch. Ein Krapfen hingegen besitzt kein durchgehendes Loch und ist das Gleiche wie eine Kugel. (Der Mantel, der neben dem Geschirrtuch hängt, ist übrigens nach diesem Verständnis eine Brezel, aber das würde hier zu weit führen.)

Angebissener Donut
Die süße Form eines Gebäcks mit Loch heißt Donut. In der Geometrie wird diese Form Torus genannt.
IMAGO/Addictive Stock

Die Mathematik der Verformung

Die Wissenschaft, die sich mit diesen Fragen beschäftigt, nennt sich Topologie und ist eine Teildisziplin der Mathematik. In ihrem Rahmen sind alle Gegenstände, die sich durch Biegen und Strecken in die gleiche Form bringen lassen, gleich. Im Alltag begegnet uns diese Logik besonders schön bei schematischen Darstellungen von U-Bahn-Netzen. Sie geben Distanzen nicht richtig wieder, sondern nur die Verbindungen und die Reihenfolge der Stationen.

Diese einfachen Bedingungen sind der Ausgangspunkt für ein reiches mathematisches Gebiet, das Verbindungen zu vielen anderen Teilbereichen der Mathematik hat und in dem einige der schwierigsten Probleme beheimatet sind. Eines davon wurde zu den sieben wichtigsten offenen Mathematikfragen gezählt, bevor es vor fast genau zwanzig Jahren von einem russischen Mathematiker namens Grigori Perelman gelöst wurde. Das Problem ist so bedeutend, dass für seine Lösung ein Preisgeld von einer Million Dollar ausgeschrieben war. Doch Perelman nahm das Geld nicht an.

Millionen für Beweise

Die Poincaré-Vermutung, um die es hier geht, ist mit der eingangs durchgeführten Betrachtung über Backwaren verwandt. In unserem vertrauten dreidimensionalen Raum ist ein Krapfen wie gesagt topologisch gleichbedeutend mit einer Kugel, wenn es um die Form der Oberfläche geht. Doch gilt dasselbe auch für ein dreidimensionales Objekt in einem vierdimensionalen Raum? Der Mathematiker Henri Poincaré behauptete 1904, dass es so wäre. Doch einen Beweis konnte er nicht angeben.

Das Problem erwies sich als so wichtig, dass das in den USA beheimatete Clay Mathematics Institute es im Jahr 2000 in eine Liste von sieben Mathematikproblemen aufnahm, deren Lösung mit je einer Million Dollar aus einem eigens eingerichteten Fonds belohnt werden sollte. Die Bedingungen waren allgemein gewählt, der Beweis musste nur nach guter wissenschaftlicher Praxis in einem Fachjournal veröffentlicht werden.

Als Perelman zwischen November 2002 und Juli 2003 drei Arbeiten auf einem Preprint-Server veröffentlichte und in mehreren Vorträgen seine Ideen für einen Beweis der Poincaré-Vermutung präsentierte, erregte das dementsprechend große Aufmerksamkeit. Schon wenige Jahre nach der Ausschreibung schien das erste der sogenannten Millennium-Probleme gelöst zu sein.

Wie schwierig die Thematik ist, lässt sich daran erkennen, dass es über drei Jahre dauerte, bis sich Fachleute einig waren, dass Perelmans Beweis korrekt ist. Selbst die eigentlich so klare Mathematik ist hier nicht immer unumstritten. Schwierige mathematische Beweise können sich über mehrere hundert Seiten ziehen, wie etwa beim Beweis der Fermat-Vermutung durch Andrew Wiles 1991. Oft lassen sich darin kleinere Lücken finden, Schritte, die nicht ausreichend begründet sind. Etwas wie eine "kleine" Lücke gibt es in der Mathematik freilich nicht. Ein Beweis ist entweder lückenlos oder inkorrekt. Das musste der japanische Mathematiker Shin'ichi Mochizuki schmerzlich erfahren, als sein 2012 vorgestellter Beweis der sogenannten abc-Vermutung in Zweifel gezogen wurde. Ein Fehler konnte noch im selben Jahr korrigiert werden, doch eine andere Unstimmigkeit blieb umstritten. Der Peer-Review-Prozess zog sich hin, und erst 2020 wurde seine Arbeit zur Veröffentlichung akzeptiert, ohne dass die Kritikpunkte vollends ausgeräumt gewesen wären.

Fehlende Fachpublikation

Bei Perelmans Beweis ging es etwas schneller, obwohl auch diese Arbeit in Summe fast 500 Seiten umfasst. Konkret hat Perelman eine allgemeinere Vermutung von William Thurston bewiesen. Die Poincaré-Vermutung ist ein Spezialfall davon. Das ist in der Mathematik durchaus Standard, auch der Beweis der Jahrhunderte alten Fermat-Vermutung durch Andrew Wiles galt eigentlich einem allgemeineren Satz, wodurch die berühmte Fermat-Vermutung mitbewiesen wurde. Perelman nutzte dabei ein Konzept namens Ricci-Flow, das auf den US-Mathematiker Richard S. Hamilton zurückgeht.

In unseren bekannten drei Dimensionen ist es schwer, überhaupt ein Problem zu erkennen, das bewiesen werden müsste: Natürlich lässt sich jedes Objekt, das kein Loch hat, zu einer Kugel transformieren, wie sich gut an einem Stück Krapfenteig vor dem Backen sehen lässt. (Demonstrationen wie jene des Comedians Stephen Colbert, der im Zuge der Diskussionen um Perelman vor laufender Kamera einen Donut zu einer Kugel zerdrückte, sind aus mathematischer Sicht bedeutungslos.) Doch was in drei Dimensionen einfach ist, kann in vier Dimensionen sehr kompliziert sein.

Fields Medal - Comedy by Stephen Colbert
foraki

Der Beweis schien der Überprüfung standzuhalten und wurde als Sensation gefeiert, doch es gab ein Problem: Perelman hatte die Arbeiten nicht bei einem Fachjournal eingereicht. Die normalerweise im Zuge einer Fachpublikation übliche Begutachtung durch Expertinnen und Experten war aufgrund der Relevanz der Arbeit ohnehin auf informellem Weg von der wissenschaftlichen Gemeinde durchgeführt worden.

Keine Antwort

Perelman machte keine Anstalten, zu publizieren, im vollen Bewusstsein, dass ihn das das Preisgeld kosten würde. Einzelne Statements legen Kritik an der fehlenden Wertschätzung für Hamiltons Vorarbeiten nahe. Der Physiker Peter Woit beschreibt auf seinem Blog, wie beeindruckt Hamilton selbst von Perelmans Arbeit war, die er bei einem Vortrag seines russischen Kollegen im Jahr 2003 kennenlernte. Tatsächlich hatte Perelman 1996 versucht, Hamilton seine Ideen brieflich mitzuteilen, doch Hamilton antwortete nie.

Woit war überzeugt, dass ein solcher Durchbruch Perelman für höchste Auszeichnungen qualifizierte, insbesondere die Fields-Medaille, die als renommiertester Preis für Mathematikerinnen und Mathematiker gilt. Sie hat die interessante Einschränkung, dass die ausgezeichnete Person maximal vierzig Jahre alt sein darf. Das soll ein Ansporn für junge Forschende sein. Doch bei Perelman schien niemand zu wissen, wie alt er eigentlich war.

Mathematiker Grigori Perelman
Eines der wenigen Bilder des öffentlichkeitsscheuen Mathematikers.
imago stock&people

Ablehnung der höchsten Auszeichnung

Als Perelmans Alter geklärt werden konnte (er wurde 1966 geboren) und man ihm die Auszeichnung 2006 zusprach, verweigerte er sie prompt. Das Clay-Institut nutzte derweil die Tatsache, dass es nicht der Preisträger selbst sein muss, der seine Arbeit veröffentlicht. Das hatten inzwischen andere getan. Perelman wurde 2010 über die Zuerkennung der Million informiert, reagierte aber nicht.

Über seine Beweggründe hat Perelman nur wenig gesprochen. Journalisten weist er manchmal durchaus schroff ab. In einem Interview mit dem "New Yorker" sagte er einmal, er habe nie explizit vorgehabt, Mathematiker zu werden. Sein Vater habe ihm Logik- und Mathematikprobleme gegeben, das habe sein Interesse geweckt. Ein in der damaligen Sowjetunion populäres Physikbuch hatte es ihm besonders angetan. Ein ehemaliger Lehrer beschreibt ihn als langsamen, gründlichen Denker. Von Hamilton sprach Perelman in den höchsten Tönen, lobte seine Offenheit und Großzügigkeit, die er ihm als unbekanntem Mathematiker entgegengebracht habe. Doch die Fields-Medaille habe für ihn keine Bedeutung. "Jeder verstand, dass es keine andere Anerkennung braucht, wenn der Beweis korrekt ist", sagte Perelman damals.

Kein "Held"

Seither ist es ruhig um Perelman. Nach der Aufregung um die abgelehnten Preise hat er laut letzten Informationen die Mathematik aufgegeben und ist zu seiner Mutter nach St. Petersburg gezogen. Eine 2009 erschienene Biografie von Masha Gessen musste ohne ein einziges Interview mit ihm auskommen. Für das Clay-Institut war es das einzige Mal, dass es den Preis für die Lösung eines der Millennium-Probleme vergab. Während sich die Veröffentlichung des letzten Teils des Beweises der Poincaré-Vermutung nun zum zwanzigsten Mal jährt, sind alle anderen sechs Probleme weiterhin ungelöst.

Einer der Gründe, den Perelman für die Verweigerung der Auszeichnungen angab, war, dass er nicht wie ein Tier in einem Zoo ausgestellt sein wollte. Er sei kein "Held" der Mathematik. Deshalb wollen wir ihn an dieser Stelle auch wieder in Ruhe lassen, bis zum nächsten runden Jubiläum seiner außergewöhnlichen mathematischen Leistung. (Reinhard Kleindl, 27.7.2023)