Verteidiger Nikolaus Rast steht mit seiner aus der Untersuchungshaft vorgeführten Mandantin und zwei Justizwachebeamten auf dem Gang des Landesgerichts für Strafsachen Wien.
Verteidiger Nikolaus Rast bespricht sich unter den Argusaugen der Justizwache vor der Verhandlung mit seiner 26 Jahre alten Mandantin.
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Wien – Das Gerichtsverfahren gegen Frau M. und Herrn P. ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Einerseits hat erst das Oberlandesgericht entschieden, dass die 26-jährige Slowakin nicht, wie ursprünglich von der Staatsanwaltschaft geplant, wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung, sondern wegen Mordversuchs an ihrem zwei Jahre älteren Partner anzuklagen ist. Und andererseits sitzt ebendieser Partner selbst auf der Anklagebank: Ihm wird von Staatsanwältin Kerstin Wagner-Haase, die für den Fehler nicht verantwortlich ist, falsche Beweisaussage vorgeworfen. Gegenüber der Polizei hatte er die Stichwunden nämlich beide Male mit Raubüberfällen durch unbekannte Täter erklärt.

Statt eines Schöffengerichts muss sich nun also ein Geschworenensenat unter Vorsitz von Christoph Bauer mit den Ereignissen im vergangenen Jahr beschäftigen. Die Beziehung zwischen dem Angestellten und der Arbeitslosen war vom Konsum legaler und illegaler Rauschmittel geprägt. Nikolaus Rast, Verteidiger der Erstangeklagten, drückt es so aus: "Die Beziehung war, vor allem, wenn Alkohol und Drogen im Spiel waren, toxisch." Andreas Schweitzer, der Rechtsvertreter des zweitangeklagten Mannes, formuliert es so: "Es erinnert mich an 'Breakfast at Tiffany's', aber auf die brutale Art und Weise."

Beide Angeklagten sind vorbestraft

Beide Slowaken sind in der Vergangenheit bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Der Zweitangeklagte hat in seiner Heimat vier Vorstrafen, in Österreich wurde er im vergangenen August wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Die Zweitangeklagte ist zweimal straffällig geworden: In der U-Bahn versetzte sie einem ihr unbekannten Passanten auf der Rolltreppe einen Kopfstoß und verletzte ihn dadurch, bei einer anderen Gelegenheit demolierte sie die Motorhaube eines Pkws, nachdem dessen Lenker sie angehupt hatte, da sie vor ihm auf die Straße gelaufen war.

Die nun inkriminierten Taten ähneln sich. Am 28. April des Vorjahres war der Zweitangeklagte wieder einmal betrunken, es kam im Vorraum der gemeinsamen Wohnung zu einem Streit. Die Frau sagt, ihr Partner habe ihr dabei unabsichtlich den Fuß gebrochen und sie geschlagen, sie wollte nur, dass das aufhöre. Daher habe sie ein auf dem Schuhkasten liegendes Stanleymesser genommen und dem Mann in den Rücken neben die Wirbelsäule gerammt. Sehr wuchtig, wie der medizinische Sachverständige Christian Reiter ausführt: "Bei einer Klingenlänge von zwei Zentimetern entstand ein vier Zentimeter tiefer Stichkanal. Wenn Sie sich fragen, wie das geht: Das kennen Sie aus der Küche, man kann Fleisch komprimieren", erklärt er den Laienrichterinnen und -richtern.

"Nur ein leichter Stecher"

Die Attacke hatten keine Auswirkung auf die Beziehung – nur im Juni gab es eine dreiwöchige Pause. Gut drei Monate nach dem ersten Angriff, am 31. Juli, holte die 26-Jährige den Mann von seiner Arbeit ab. Auf dem Heimweg trank man Alkohol, rauchte einen Joint und stritt wieder heftig. Was daheim in der Küche geschah, wird unterschiedlich geschildert. Die Erstangeklagte behauptet, ihr Partner habe sie mit dem Kopf gegen die Küchenzeile gestoßen, worauf sie ein herumliegendes Küchenmesser nahm und ihm in die rechte Brustseite unter das Schlüsselbein stach. "Es war eigentlich nur ein leichter Stecher", meint sie dazu, sie habe keine Tötungsabsicht gehabt.

Sachverständiger Reiter bestätigt zwar, dass im speziellen Fall keine Lebensgefahr vorgelegen habe, insgesamt bei einem Stich in den Oberkörper aber tödliche Verletzungen möglich sind. Es sei zwar "wuchtig, aber nicht sehr wuchtig" zugestochen worden – trotz einer Klingenlänge von 22 Zentimetern war die Wunde 4,5 Zentimeter tief. Die Wunde blutete stark, das Opfer versuchte zunächst, die Blutung mit seinem T-Shirt zu stoppen, und rannte schließlich auf die Straße und verständigte die Rettung. Eine Notoperation und ein mehrtägiger Krankenhausaufenthalt waren nötig. Der Zweitangeklagte kann sich an den ersten Anklagepunkt gar nicht mehr erinnern, im zweiten Fall habe die Frau ihn zunächst geschubst und dann plötzlich ohne Vorwarnung zugestochen. "Ich glaube aber nicht, dass sie mich umbringen wollte", verteidigt er M. auch jetzt noch. Zur falschen Beweisaussage bekennt P. sich schuldig.

Bis Oktober blieben sie noch ein Paar, dann wurden zunächst beide festgenommen, der Mann nach vier Tagen aber aus der Untersuchungshaft entlassen. Ob sie noch zusammen seien, will Vorsitzender Bauer von den beiden wissen. Nein, lauten die übereinstimmenden Antworten. Das sieht der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann als Problem: Denn die 26-Jährige habe somit keinen "sozialen Empfangsraum" mehr, da sie ohne Kontakte in Wien lebt.

Psychiatrischer Sachverständiger sieht Gefährlichkeit

Hofmann diagnostiziert bei der Erstangeklagten eine "emotional instabile Persönlichkeitsstörung", im Volksmund auch gerne als "Borderline-Syndrom" bezeichnet. Sie sei "ein hochexplosiver Charakter" und könne sich nur schwer kontrollieren. Sie reagiere überschießend auf Nichtigkeiten, ist er überzeugt, und bei den Delikten sei eine Steigerung erkennbar. Sie sei zwar bei beiden Angriffen zurechnungsfähig gewesen, aber gefährlich. Da ihre Erkrankung bisher nicht behandelt worden sei, spricht er sich daher für die "strafrechtliche Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum" aus.

In der Untersuchungshaft hat sich M. noch geweigert, Psychopharmaka zu nehmen. "Ich wollte davon nicht süchtig werden", begründet sie das gegenüber dem Vorsitzenden. Mit einer Therapie, selbst einer Unterbringung, sei sie aber einverstanden. "Wie stellen Sie sich Ihre Therapie, die Sie ja machen wollen, vor, wenn Sie keine Medikamente nehmen? Sesselkreis und reden darüber?", ist Bauer skeptisch. Nein, wenn Mediziner ihr sagen würden, dass sie Tabletten nehmen muss, würde sie das auch machen, bekräftigt die Erstangeklagte.

In den Schlussplädoyers legen Staatsanwältin Wagner-Haase und Verteidiger Rast nochmals ihre unterschiedlichen Standpunkte dar. Die Anklägerin ist überzeugt, dass die Angeklagte es beim zweiten Angriff zumindest "ernstlich für möglich hielt", dass ihr Freund sterben könnte. Daher sei sie wegen versuchten Mordes zu verurteilen. Rast sieht das ganz anders: Seine Mandantin sei medizinische Laiin und habe P. in den Schulterbereich gestochen, da könne man nicht von Lebensgefahr ausgehen, ist er überzeugt. Eine Tötungsabsicht kann er nicht erkennen: "Wenn ich jemanden umbringen will, dann kitzle ich ihn nicht mit dem Messer, dann ramm ich es mit voller Wucht hinein." Verteidiger Schweitzer kann sich angesichts des Geständnisses des Zweitangeklagten kürzer fassen: "Er hat aus Liebe zu ihr gelogen", empfiehlt er den Geschworenen einen einstimmigen Schuldspruch.

Drei Entscheidungsfragen für Geschworene

Im Fall der Erstangeklagten müssen sich die Laienrichterinnen und -richter zwischen drei Fragen entscheiden: War der zweite Angriff ein Mordversuch, eine absichtliche schwere Körperverletzung oder eine "normale" schwere Körperverletzung? Nach gut zweistündiger Beratung fällen sie ein einstimmiges Urteil: Der Mordversuch wird mit acht zu null Stimmen von ihnen verneint, die absichtliche schwere Körperverletzung ebenso mit acht zu null Stimmen bejaht. Bei einem Strafrahmen von zwei bis zu zehn Jahren wird sie zu drei Jahren und zwei Monaten unbedingter Haft verurteilt, zusätzlich wird ihre Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum angeordnet.

Der Zweitangeklagte bekommt für seine Falschaussagen bei der Polizei eine Zusatzstrafe von drei Monaten bedingt zu seiner letzten Verurteilung im August 2022. Da beide die Entscheidungen akzeptieren und auch die Staatsanwältin keinen Einwand hat, sind die Urteile bereits rechtskräftig. (Michael Möseneder, 26.7.2023)