Als einige Menschen vor rund 12.000 Jahren im Nahen Osten dahinterkamen, dass man pflanzliche Nahrungsmittel auch selbst anbauen kann, anstatt sie sich mühsam in der Natur zusammenzusuchen, begann eine der größten Umwälzungen der gesamten Menschheitsgeschichte. Die Neolithische Revolution war tatsächlich revolutionär und beeinflusste vermutlich alle Bereiche der damaligen Existenz. Allmählich konnte man mehr Nahrungsmittel herstellen, als man unmittelbar benötigte. Man konnte sie aufsparen, es entstand so etwas wie Wohlstand, und daraus ging auch eine neue Form der sozialen Hierarchie hervor, die bis in die Gegenwart fortwirkt.

Der Umbruch vollzog sich zunächst wohl langsam, die neue Erfindung namens Ackerbau breitete sich nur allmählich aus und erreichte die Regionen Westeuropas wahrscheinlich vor etwa 7.000 Jahren. Im Zuge dessen wurden auch dort die sesshaft gewordenen Gesellschaften zunehmend komplexer, was sich unter anderem auch in den Bestattungen widerspiegelt. Eines der größten bekannten neolithischen Gräberfelder Westeuropas entstand vermutlich kurz nachdem dort der Ackerbau Einzug gehalten hatte: Die Ausgrabungsstätte Les Noisats bei Gurgy rund 140 Kilometer südöstlich von Paris enthält weit über 100 Beisetzungen unterschiedlichster Art.

Zwei Familien

Die Frage, wer diese Menschen waren, die hier um etwa 4800 v. Chr. lebten, und in welcher Beziehung sie zueinander standen, lässt sich allein anhand archäologischer Funde nur schwer klären. Daher suchte eine internationale Forschungsgruppe in den noch vorhandenen genetischen Spuren dieser frühen Bauern nach Antworten. Und tatsächlich gelang es dem Team nach der Entnahme von Proben von nahezu jedem Individuum des jungsteinzeitlichen Friedhofs mithilfe neuer Methoden zur Gewinnung und Analyse alter DNA-Daten, die Stammbäume dieser Menschen zu rekonstruieren: Es zeigte sich, dass die Mitglieder der prähistorischen Gemeinschaft offenbar zumindest zwei Familien angehört hatten.

Zwei prähistorische Skelette, die in Frankreich ausgegraben wurden
Zwei der in Gurgy beigesetzten Toten aus der Zeit um 4800 v. Chr. Ein deutsch-französisches Team schloss aus der DNA dieser Begräbnisstätte auf die soziale Organisation der jungsteinzeitlichen Gemeinschaft.
Foto: Maïté Rivollat et al.

"Nur dank der großen Fortschritte, die wir in den letzten Jahren auf unserem Gebiet gemacht haben, und der vollständigen Integration von Kontextdaten war es möglich, eine solche außergewöhnliche Studie durchzuführen", sagte Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Hauptautor der Studie. "Sie ist ein wahrgewordener Traum für jeden Anthropologen und Archäologen und eröffnet einen neuen Weg für die Erforschung der menschlichen Vergangenheit."

Rekordstammbaum

In ihrer nun im Fachjournal "Nature" veröffentlichten Studie analysierten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter Erbinformationen von 94 in Gurgy bestatteten Personen, kombiniert mit Strontium-Isotopen-Verhältniswerten, mitochondrialer DNA, die auf mütterliche Abstammungslinien hinweisen, sowie Y-Chromosom-Daten für die väterlichen Abstammungslinien. Das Ergebnis waren zwei Stammbäume: Der erste verbindet 64 Individuen über sieben Generationen hinweg miteinander, was ihn zum bisher größten aus prähistorischer DNA rekonstruierten Stammbaum macht. Der zweite umfasst zwölf Individuen aus fünf Generationen.

"Seit Beginn der Ausgrabung fanden wir Hinweise darauf, dass der Bestattungsplatz von der damaligen Bevölkerung gepflegt und kontrolliert worden war", sagte Stéphane Rottier von der Universität Bordeaux. Der Archäoanthropologe war an den Ausgrabungen des Stätte zwischen 2004 und 2007 maßgeblich beteiligt und fand zahlreiche genetische und räumliche Korrelationen, die zeigten, dass die Verstorbenen wahrscheinlich in der Nähe eines Verwandten begraben wurden. Dies erweckte den Eindruck, dass der Friedhof von einer Gruppe eng miteinander verbundener Personen verwaltet wurde, oder zumindest von Personen, die genau wussten, wer wo begraben war.

Jungsteinzeitlicher Stammbaum, Gurgy
Der bisher größte rekonstruierte Stammbaum aus prähistorischer DNA zeigt die Verwandtschaftsbeziehungen von sieben Generationen jungsteinzeitlicher Bauern der Begräbnisstätte von Gurgy. Die gemalten Porträts sind freilich eine künstlerische Interpretation der Individuen auf der Grundlage der anhand der DNA geschätzten Merkmale, sofern diese verfügbar waren. Die Quadrate (männlich) und Kreise (weiblich) stellen im Stammbaum erschlossene Individuen dar, für die am Fundort Gurgy keine genetischen Belege entdeckt wurden.
Illustr.: Elena Plain/University of Bordeaux/PACEA

Die Rekonstruktion der beiden Stammbäume ergab ein dominierendes patrilineares Muster, bei dem jede Generation fast ausschließlich über den biologischen Vater mit der vorangegangenen Generation verbunden ist. Zugleich legen Abstammungslinien aus mitochondrialem Erbgut und Untersuchungen der Strontium-Isotope nahe, dass die meisten Frauen nicht aus dieser Gegend kamen. Mit anderen Worten: Die Söhne blieben, wo sie geboren wurden, und hatten Nachkommen mit Frauen von außerhalb. Die Forschung bezeichnet diese Praxis als Virilokalität.

Männer blieben, Frauen gingen

Passend dazu fehlen auf dem Friedhof von Gurgy die meisten erwachsenen Töchter des Stammbaums, was auf weibliche Exogamie schließen lässt – eine Tradition, bei der nur außerhalb des eigenen sozialen Verbandes geheiratet wurde. Die Forschenden schließen daraus auf ein System des gegenseitigen Austauschs mit anderen Gemeinschaften. Interessanterweise waren weibliche Individuen von außerhalb kaum untereinander verwandt, was bedeutet, dass sie nicht nur aus einer einzigen nahe gelegenen Gruppe stammten, sondern aus unterschiedlichen Gemeinschaften. All das spricht für die Existenz eines breiten und potenziell flexiblen Netzwerks von Kontakten zwischen mehreren Gruppen oder Gemeinschaften.

"Wir beobachten hier eine große Anzahl von Geschwistern, die das Erwachsenenalter erreicht haben. Dies und die beträchtliche Anzahl von verstorbenen Säuglingen deutet auf recht große Familien, eine hohe Fruchtbarkeitsrate und allgemein stabile Gesundheits- und Ernährungsbedingungen hin", sagte Maïté Rivollat (Universität Gent, Belgien), ebenfalls Hauptautorin der Studie. "Für diese frühe Ära ist das schon recht auffällig." Ein weiteres verblüffendes Merkmal in Gurgy ist das Fehlen von Halbgeschwistern. Polygamie war demnach in dieser Gemeinschaft offenbar kein Thema.

Der Stammvater wurde mitgebracht

Schließlich gelang es dem Team sogar, die größere der beiden Familien auf ein einziges männliches Individuum zurückzuführen, von dem alle späteren Mitglieder dieser Herkunftslinie abstammten. Die Bestattung dieses "Gründungsvaters" erwies sich für die lokalen Verhältnisse als einzigartig: Seine sterblichen Überreste waren offenbar aus einem anderen Grab geholt und in die Beisetzungsgrube einer Frau zur Ruhe gebettet worden. Die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Frau konnten leider nicht festgestellt werden, da sich von ihr kein geeignetes Genmaterial bergen ließ. Woher dieser "Stammvater" und damit die gesamte Gruppe ursprünglich kam, bleibt unklar.

"Da er nach einer Erstbestattung an einem anderen Ort dorthin gebracht wurde, muss er für die Bevölkerung von Gurgy eine Person von großer Bedeutung gewesen sein", sagte Marie-France Deguilloux, Co-Autorin der Studie von der Universität Bordeaux. Obwohl sich der Hauptast des Stammbaums über sieben Generationen erstreckt, deutet das demografische Profil der Gemeinschaft darauf hin, dass sich eine große Familiengruppe an diesem Ort niedergelassen hatte.

Gekommen, aber nicht geblieben

Sehr lange war dieser Clan in Gurgy jedoch nicht ansässig. Das schließen die Forschenden daraus, dass aus den ersten Generationen fast keine Kinder und aus den letzten Generationen keine erwachsenen Personen hier bestattet worden waren. Wahrscheinlich hatte diese Gruppe ihr vorangegangenes Zuhause verlassen und dort alle bereits verstorbenen Kinder zurückgelassen. Einzig die Gebeine ihres Stammvaters haben diese Menschen mitgebracht.

Nur wenige Generationen später wiederholte sich die Geschichte: Die Erwachsenen der letzten Generationen von Gurgy zogen weiter und ließen ihre verstorbenen und beigesetzten Kinder dort zurück. Damit lebten in Gurgy wahrscheinlich nur drei bis vier Generationen des Clans, was etwa der Dauer eines Jahrhunderts entspricht. Was die Menschen dazu gezwungen hatte, ihre neue Heimat wieder zu verlassen – diesmal ohne die Gebeine ihres "Stammvaters" –, wird vermutlich ein Geheimnis bleiben müssen. (Thomas Bergmayr, 26.7.2023)