Demonstration gegen Rammstein in Wien
Hunderte Menschen demonstrierten vor dem Rammstein-Konzert im Wiener Ernst-Happel-Stadion aufgrund der Vorwürfe gegen Frontmann Till Lindemann und den Keyboarder Christian "Flake" Lorenz.
HELENA LEA MANHARTSBERGER

Das erste gesichtete Rammstein-T-Shirt spannt sich in der U-Bahn bereits um 16 Uhr über das Bäuchlein eines freundlichen, älteren Herren. Es zeigt Homer Simpson, den tumben Tor, seinerseits im Rammstein-Shirt. Die Stimmung ist blendend, Männer und Frauen jeden Alters halten sich unter den Fans fast die Waage. Eine Mutter mit ihren drei erwachsenen Töchtern, alle gleich schwarz uniformiert, will von den Vorwürfen gerade nichts hören, zumindest heute nicht. Sich die Freude nicht verderben lassen. Natürlich habe man alles verfolgt, und natürlich verurteile man Missbrauch – so er denn passiert sein sollte. Aber bewiesen sei nun einmal "gar nichts", richtig daran glauben könne man "eigentlich nicht".

Video: Beim ersten von zwei Konzerten im Wiener Ernst-Happel-Stadion ließen sich die befragten Fans nicht die Laune durch die Anschuldigungen gegen Frontsänger Till Lindemann verderben
DER STANDARD

Vor dem Wiener Ernst-Happel-Stadion, wo Rammstein, dessen Sänger Till Lindemann seit Wochen sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, zweimal über 50.000 Fans bedienen wird, bilden sich schon vier Stunden vor Beginn allerorts lange Schlangen. Das Recht auf Sexyness verteidigen viele Frauen auch jetzt: Netzstrumpfhosen, Insignien des Gothic-Schicks, Bandshirts mit der Aufschrift "just a little bitch" sind zu sehen, bei den Männern dominiert die Songtextphrase "manche führen – manche folgen". Man spürt Trotz, ein "Jetzt erst recht"-Gefühl, Naivität ist dabei, aber auch die ein oder andere nachdenkliche Stimme mit dem Tenor: Wenn sich der Verdacht erhärtet, sei die Band für sie "gestorben".

Filmregisseurin und Drehbuchautorin Katharina Mückstein während ihrer Rede
Filmregisseurin und Drehbuchautorin Katharina Mückstein forderte in ihrer Rede "einen moralischen Kompass auch jenseits des Rechtssystems".
APA/GEORG HOCHMUTH

"Keine Bühne für mutmaßliche Täter"

Video von der Demo gegen Rammstein: "Hier wäre canceln die richtige Entscheidung gewesen"
DER STANDARD

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht ein von Absperrgittern umrandeter Bereich parat. Das zivilgesellschaftliche Bündnis Aufstehn und weitere Gruppen haben zu einer Demo unter dem Motto "Keine Bühne für mutmaßliche Täter" aufgerufen. Das "mutmaßlich" markiert die juristische Unschuldsvermutung, kein Wort fällt bei den Rammstein-Fans heute öfter als dieses. Unter den Demonstrierenden liest man auch Schilder mit der Gegenbekundung: "Ich scheiß auf eure Unschuldsvermutung" oder Wienerischer: "Till, du grindiger Oasch!"

Mitinitiatorin Philine Dressler gibt Interviews. Dem STANDARD erklärt sie, dass es richtig war, die Demo anzumelden und polizeilich schützen zu lassen, um Zusammenstöße mit Fans wie in Deutschland und der Schweiz zu verhindern. Es gehe auch gar nicht so sehr darum, einzelne Fans zu erreichen, sondern ein Statement zu setzen, das sich an die ganze Gesellschaft richtet.

Ab 17.30 Uhr hat sich der Demo-Bereich wie angekündigt rasch gefüllt. Um die 400 Personen* sind gekommen, nicht nur Frauen, auch viele Männer, tendenziell jünger und urban, auf der Fanseite dominiert Publikum aus den ländlichen Regionen. Während es auf der einen Seite heißt, beim Rock 'n' Roll müsste man doch wissen, "dass backstage nicht nur Karten gespielt wird", das Wort "Eigenverantwortung" wird strapaziert, betonen die Demonstrierenden "Nur ja heißt ja" und "Er hat nicht gefragt, sie hat nicht ja gesagt".

Scham und Wut

Eine junge Frau meint, sie schäme sich für die weiblichen Rammstein-Fans und deren mutmaßliche Ignoranz, ihr Begleiter geht nicht davon aus, dass Lindemann verurteilt wird ("Zu gute Anwälte, zu viel Geld, wie immer"), aber es gebe abseits der juristischen Komponente eben auch einen moralischen Aspekt. Und diesen würden die Fans total ignorieren. Die Filmregisseurin und Drehbuchautorin Katharina Mückstein schlägt bei ihrer Rede von einer kleinen Bühne herab in dieselbe Kerbe: Es brauche "einen moralischen Kompass auch jenseits des Rechtssystems".

Für viele ist das beschriebene Recruitingsystem, mit dem Lindemann offenbar systematisch junge Frauen zugeführt worden sein sollen, bereits per se verwerflich. Mückstein, die zuletzt etwa Missbrauch in der Filmbranche kritisierte, erinnert am Beispiel Rammsteins daran, wie Patriarchat und Kapitalismus Hand in Hand gingen. "Männergewalt ist Mehrheitstradition, unsere Normalität, drei von fünf Frauen erleben irgendwann in ihrem Leben Übergriffe", sagt sie und erntet Applaus. Der Veranstalter der Konzerte, Arcadia Live, habe auf Anfragen der Protestierenden nie reagiert, Absagen seien offenbar nie infrage gekommen. "'Was ist mit dem finanziellen Schaden?', wird gefragt. Wir fragen: Was ist mit den Betroffenen?"

Rammstein Fans
Auch Fans von Rammstein trugen auf T-Shirts Botschaften, die wohl mit den aktuellen Vorwürfen in Zusammenhang stehen dürften.
HELENA LEA MANHARTSBERGER

Männer mit Mittelfinger

Mittlerweile hat die Gegenseite trotz zwischengeschaltetem Verkehrslärm doch mitbekommen, dass die Demo im Gange ist. Teils belustigt, teils ernsthaft neugierig beäugen die Rammstein-Fans die Proteste aus der Ferne. Sprechchöre kommen auf, jetzt, noch bevor im Stadion der erste Ton gespielt ist, ist die Demo lauter als 50.000 Fans. Vereinzelt recken Männer ihre Mittelfinger in Richtung Demonstrierende, diese wissen von aggressivem Verhalten und Pöbeleien schon bei der Anfahrt zu berichten.

Mit Einsetzen der Dämmerung leeren sich allmählich die Bierstände vor dem Stadion, das Publikum strömt ins Oval. Die Demo-Teilnehmer können unbehelligt abziehen. Initiatorin Philine Dressler kann mit dem Aufgebot zufrieden sein, Erfolg habe man aber erst dann gehabt, wenn sich die Dinge ändern würden. Das Paar am Absperrgitter hofft, dass es die letzten Rammstein-Konzerte in Wien gewesen sein werden. Philine Dressler versichert: "Wir hören nicht auf, wir machen weiter, wir bleiben dran." (Stefan Weiss, 26.7.2023)