Rammstein Konzert Wien
Rammstein-Sänger Till Lindemann hat wegen Vorwürfen bezüglich sexueller Übergriffe den Schritt vom Kasperl zum Krokodil vollzogen.
IMAGO/Gonzales Photo

Tun wir einmal so, als ob nichts wäre. Wir haben vor dem ersten von zwei Konzerten der Band Rammstein im Wiener Ernst-Happel-Stadion draußen von der Gegendemonstration "Keine Bühne für mutmaßliche Täter" nichts mitbekommen. Frontmann Till Lindemann ist ja seit Mai 2023 wegen seines kolportierten Lebenswandels abseits, hinter und unter der Bühne sowie eidesstattlicher Erklärungen von mutig an die Öffentlichkeit gegangenen Opfern bezüglich mutmaßlicher Sexualdelikte und der Abgabe von K.-o.-Tropfen etwas ins Gerede gekommen. Sprich, der Kasperl wurde zum Krokodil.

Bei einem Rundblick im Stadion wird eines klar. Die tausendfach in schwarzen Rammstein-T-Shirts steckenden, durchaus fröhlichen und enthusiastischen, oder aber auch einfach nur Schwarz oder schlichtes Schwarz tragenden Besucher und Besucherinnen haben meist ebenfalls trotzig wie unsereins an Arik Brauers alten Schlager Sein Köpferl im Sand gedacht: Wir haben nichts gesehen, nichts gespürt, nichts gehört und nichts gerochen. Wir haben uns nichts dabei gedacht, wir reden nicht darüber – und dagegen etwas tun, das tun wir schon gar nicht! Es ist ja nichts gewesen! Es gilt das Wort des Jahres: Unschuldsvermutung!

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Gleich bebt die Erde

Dann geht es los, gleich bebt die Erde. Nach Georg Friedrich Händels Feuerwerksmusik als Intro startet die Show mit dem Rammlied. Von einem 30 Meter hohen Turm fährt der böse Zauberer Tintifax Lindemann, eng bewamst in einem hitzeresistenten Schutzanzug aus dem Science-Fiction-Film Dune, mit einem Lift auf das irdische Jammertal hernieder. Er will die Welt brennen sehen.

Die Lyrik ist ein wenig vom slowenischen Kunstkollektiv Laibach geborgt. Überhaupt wird dessen martialisches, den politischen Totalitarismus gern grunzend hinterfragendes Gesamtpaket von den ostdeutschen Musikern seit Jahrzehnten mit Pyrotechnik und Flammenwerfern auf eine intellektuelle Schlichtheit eingedampft. Sie wird mit biedermeierlichen Sticktuchreimen kombiniert. Laibach: "Ein Weg / Ein Ziel / Ein Motiv." Rammstein: "Eine Richtung / Ein Gefühl / Aus Fleisch und Blut / Ein Kollektiv." Das Sticktuch: "Wer wartet mit Besonnenheit / Der wird belohnt zur rechten Zeit / Nun, das Warten hat ein Ende /Leiht euer Ohr einer Legende!"

Man soll seine Ohren aber nicht herleihen, schwerer Fehler. Das Rammlied macht die Hosen und die inneren Organe flattern. Zu diamanthart komprimierten Metalgitarrenriffs und einem böllernden Schlagzeug, bei dem man seine Muskelfunktionen am besten unter Kontrolle halten können sollte, wird reiner Tisch gemacht: Friss oder stirb. Das Großhirn will im Schädel entsetzt nach hinten flüchten, aber das Kleinhirn gibt seinen Platz nicht frei. Die Stirn fühlt sich überhaupt an, als hätte jemand mit einem Brett draufgeschlagen. Die Ohren werden noch übermorgen das seltener als die Feuerwerksmusik gespielte Tinnitus-Oratorium von Georg Fucking Händel pfeifen. Kurz gesagt: Es! Ist!! Verdammt!!! Laut!!!! Spätestens jetzt wird klar: Dieses Konzert ist die totale Überwältigung. Es ist als unverhohlener Übergriff angelegt.

Helene Fischer auf Metal

Diesbezüglich haben die mit fehlgeleiteter männlicher Energie künstlerisch überreich bestückten Rammstein nach Bekanntwerden der doch recht glaubhaften Missbrauchsvorwürfe, von denen wir im Stadion heute ja gar nichts wissen wollen, wenigsten die Peniskanone weggelassen. Auf der ist Till Lindemann jahrelang beim Song Pussy geritten und hat hektoliterweise Dings ins Publikum gespritzt.

Guttural mit rollendem RRRRR werden stur Lieder wie Links-2-3-4, Bestrafe mich, Sehnsucht, Mein Herz brennt oder der aktuelle Song Zeit gegrunzt. Letzterer klingt, als hätte man Helene Fischer in einen BDSM-Keller gesperrt, in dem man nur Radio Niederösterreich empfangen kann. Das ist zumindest ein neuer Aspekt im Schaffen. Sonst hat sich bei einer bühnenmäßig als Metropolis aus der Stummfilmzeit designten Rammstein-Show seit dem letzten Wien-Konzert 2019 nur wenig geändert.

Rammstein Official

Beim zehnminütigen Intro zum Song Deutschland, das Gitarrist Richard Kruspe als DJ oben auf dem Turm abspielt, schleppt sich der etwas lädiert wirkende, erheblich abgelebte 60-jährige Lindemann allerdings neuerdings nicht mehr von der Bühne, um in einem abgeschirmten Raum darunter mit Frauen aus der "Row Zero" Kraft zu schöpfen. Die Reihe null ist mittlerweile Geschichte. Wenn es sein muss, steht Lindemann den Auftritt ganz ohne sexuelle Ausschweifung nur mit einem Schluck Wasser und einem Müsliriegel als Pausensnack durch.

Er wird anschließend mit blutiger Schürze und Kochhaube während des Kannibalensongs Mein Teil mit einem Flammenwerfer traditionell Keyboarder Flake in einem Suppentopf garen. Zuvor hat das Feuer beim Lied Puppe aus einem zwei Meter hohen Kinderwagen gespuckt. Bei Sonne steht schließlich das Stadion in Flammen – und aus dem "Höteifi" Lindemann selbst schießen pfauenradartig die Flammen.

Steinwerk

Geschätzte 1.000 Liter Brennstoff verbraucht die Band während einer Show. Rauch wabert über die bodenversiegelte Rasenfläche. Die Bäckchen des Publikums glänzen wie Bratäpfel. In der Zugabe heißt es: "Rammstein, ein Mensch brennt." Nach zwei Stunden geht das Konzert zu Ende. Wir müssen wieder nach draußen. Wir müssen draußen wieder schlimme Dinge über Rammstein hören. Von der Gegendemo her weht nach all der Hitze allerdings ein frischer Wind.

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Toxische Männlichkeit

Im während der Zugaben gegebenen Ich will heißt es: "Wir woll'n, dass ihr uns vertraut / Wir woll'n, dass ihr uns alles glaubt / Wir woll'n eure Hände seh’n / Wir woll'n in Beifall untergeh'n, ja." Das mit dem Vertrauensgrundsatz und der toxischen Männlichkeit ist so eine Sache. Möglicherweise helfen Rammstein mit ihren sehr oft nicht ironisch gelesenen Texten ein Weltbild zu perpetuieren, in dem Frauen die ewigen Opfer sind und bleiben.

Ein weiser Mann hat einmal geschrieben: "Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." Vielleicht sind Till Lindemann bei seiner Tabus nach Exerzierplan brechenden Tour durch die dunklen Seiten der Seele irgendwann über die Jahre die Grenzen zwischen künstlerischer Position und privater Person durcheinandergeraten. Kann passieren, shit happens. Adieu, Rammstein. (Christian Schachinger, 27.7.2023)