Eine Pille
Supraleitende Materialen schweben, wenn man sie über Magneten platziert, wie in dieser künstlerischen Darstellung illustriert.
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In sozialen Medien wird die Arbeit bereits als Durchbruch gefeiert. Und tatsächlich versprechen zwei Studien, die Forschende aus Korea und den USA am 22.7. im Internet veröffentlichten, eine Sensation. Seit der Entdeckung des Effekts der Supraleitung, des Verschwindens des elektrischen Widerstands eines Materials, durch Heike Kamerlingh Onnes im Jahr 1911, hatte es intensive Bestrebungen geben, den Effekt praxistauglich zu machen. Widerstandsfrei fließender Strom ist vor allem beim Erzeugen starker Magnetfelder äußerst nützlich. Hier wird Supraleitung seit vielen Jahren eingesetzt, etwa in der medizinischen Bildgebung durch Magnetresonanztomografen oder bei den Experimenten des Kernforschungszentrums Cern.

Warum die Technologie noch nicht ihren Weg in die breite Anwendung gefunden hat, lässt sich an den beiden letztgenannten Beispielen sehen. Da wie dort wird Material eingesetzt, das nur bei extrem niedrigen Temperaturen supraleitend wird. Es muss durchgehend mit flüssigem Helium gekühlt werden.

Forschungsgruppen in aller Welt suchten also intensiv nach einem "Hochtemperatur"-Supraleiter, der im Energiesektor für einen fundamentalen Umbruch sorgen könnte. Die infragekommenden Materialien sind unter Normalbedingungen oft gar nicht elektrisch leitend. Doch unter einer gewissen Temperatur fällt dieser Widerstand abrupt auf null ab. Je höher diese Temperatur, desto weniger Aufwand muss zur Kühlung aufgebracht werden.

Der Traum: Raumtemperatur

Besonders interessant wäre natürlich ein Material, das überhaupt keine Kühlung benötigt, sondern bei Raumtemperatur funktioniert. Solche gibt es tatsächlich seit Jahren, doch die Supraleitung funktioniert dort nur bei astronomisch hohem Druck.

Die neuen Arbeiten sind deshalb so aufsehenerregend, weil hier die Entdeckung eines Materials behauptet wird, das bei normalem Atmosphärendruck und Raumtemperatur supraleitend sein soll. Es besteht aus dem Mineral Blei-Apatit, das modifiziert wurde, indem man Bleiatome durch Kupfer ersetzte. Zu seiner Erzeugung mischte das Team verschiedene Pulver aus chemischen Verbindungen von Blei, Sauerstoff, Schwefel und Phosphor und buk sie über mehrere Stunden. Dabei entstand ein dünnes, graues Plättchen.

In der Magnetresonanztomografie werden Supraleiter heute schon eingesetzt.
In der Magnetresonanztomografie werden Supraleiter heute schon eingesetzt.
REUTERS

In der Folge unterzog man es einigen typischen Tests, um Supraleitung zu demonstrieren, darunter der Nachweis des fehlenden Widerstands, die Bestimmung der kritischen Temperatur, unter der sich Supraleitung einstellt, des sogenannten kritischen Magnetfeldes und des Meissner-Effekts, der Supraleiter über Magnetfeldern schweben lässt. Beim Abkühlen dieser Probe von 105 Grad Celsius auf 30 Grad sei der elektrische Widerstand auf null gefallen.

Die Publikation zweier verschiedener Arbeiten ist dabei kurios. Das Thema ist dasselbe, einige der Autoren sind an beiden Arbeiten beteiligt. Dass beide Arbeiten erscheinen, scheint nicht abgesprochen gewesen zu sein. Gegenüber dem Magazin "New Scientist" kritisiert Kim Hyun-Tak die schlechte Qualität der zweiten Arbeit, bei der nur drei Autoren aufgeführt sind. Diese stammt von Kims Kollegen vom südkoreanischen Quantum Energy Research Centre, das auch ein Patent auf das neue Material angemeldet hat.

Zweifel von Fachleuten

"Ich kenne die Preprints", sagt der Physiker Wolfgang Lang von der Uni Wien, der an Supraleitern forscht. Den verwendeten Zugang findet er grundsätzlich vielversprechend. Bisher funktionieren Raumtemperatursupraleiter wie gesagt nur bei extrem hohen Drücken. Hier werde versucht, durch Fremdatome in dem Material innere Spannungen zu erzeugen, die gewissermaßen diese Drücke ersetzen.

Dennoch rät er zur Vorsicht: "Es gibt da einige Hintergründe, die mich stutzig machen." Einerseits sei die geringe Menge an Probenmaterial seltsam. "Ich sehe keine Hinweise auf die Reproduzierbarkeit der Messungen an mehreren Proben", sagt Lang.

Seltsame Messergebnisse gebe es immer wieder. "Wir nennen so etwas Uso – 'unconfirmed superconducting object'", erklärt der Physiker. Der Großteil der Daten sehe solide aus, doch Lang wundert sich, dass sie nicht bis zu höheren Temperaturen erfasst wurden, bei denen die Supraleitung verschwindet. "Mit üblicher Laborausstattung ist es relativ einfach möglich, diesen erweiterten Temperaturbereich zu erfassen."

Anschaulich demonstrieren die Autoren die Levitation eines Probenstücks über einem Magneten, eine zentrale Eigenschaft von Supraleitern. Allerdings kann dieser Effekt auch bei nicht supraleitendem Graphit beobachtet werden. "Eine Bestätigung oder Kritik der vorgelegten Ergebnisse durch unabhängige Laboratorien wäre daher unbedingt erforderlich." Lang empfiehlt außerdem, das Peer-Review-Verfahren abzuwarten.

Gefälschte Ergebnisse in der Vergangenheit

Allerdings schützt auch dieser in der Wissenschaft übliche Qualitätssicherungsprozess, bei dem Arbeiten vor der offiziellen Publikation von Fachleuten geprüft werden, nicht gänzlich vor Kontroversen. Gerade einige Arbeiten zu Supraleitung mussten zuletzt aufgrund von Mängeln zurückgezogen werden.

Es traf Arbeiten einer Gruppe um Ranga Dias von der Universität Rochester. Nachdem eine seiner Studien zurückgezogen wurde, reichte er sie in korrigierter Form erneut ein, um gleich darauf im Fachjournal "Nature" von einem neuen Durchbruch zu berichten. Der dabei vorgestellte Raumtemperatursupraleiter hatte aber noch Drücke wie am Grund des Marianengrabens benötigt, um zu funktionieren. Andere Gruppen konnten die spektakulärsten Ergebnisse von Dias bislang nicht reproduzieren. Stattdessen muss aktuell eine weitere seiner Arbeiten vom Journal "Nature" zurückgezogen werden. Man hatte Hinweise auf Manipulation der Daten gefunden.

Warum die Arbeit überhaupt angenommen und publiziert wurde, erklärt man bei "Nature" so: "Unsere Redakteure entscheiden ausschließlich danach, ob die Forschung unsere Kriterien für eine Veröffentlichung erfüllt." Wenn Bedenken geäußert würden, prüfe man diese sorgfältig. (Reinhard Kleindl, 28.7.2023)