Erst am Sonntag hatte der russische Präsident Wladimir Putin behauptet, die ukrainische Gegenoffensive sei gescheitert. Wenige Sekunden zuvor hatte der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko bei einem Treffen der beiden in Sankt Petersburg gar behauptet, es gebe überhaupt keine Gegenoffensive. Nun hätten die beiden Machthaber auch in der Vergangenheit schon den einen oder anderen Lügendetektor zum Glühen gebracht, aber auch diesmal dürfte sie die Realität schneller einholen als ihnen lieb ist. Glaubt man den Aussagen zweier Pentagon-Beamten in der "New York Times", legt die Ukraine nämlich in diesen Tagen und Stunden gerade erst so richtig los.

Kiew habe damit begonnen, den Großteil der westlichen Panzer und gepanzerten Fahrzeuge und die im Westen ausgebildeten Truppen in die Schlacht zu werfen, heißt es dort. Mit emsiger Besuchsdiplomatie haben der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, Außenminister Dmytro Kuleba und Verteidigungsminister Oleksij Resnikow in den vergangenen Monaten mehr als hundert moderne und noch viel mehr ältere westliche Kampf- und Schützenpanzer in die Ukraine gelotst, wenngleich die Lieferung der vielfach gewünschten F-16-Kampfjets bisher noch ausblieb. Der Bulk an Waffen sei nun aber im Einsatz, glauben die US-Spezialisten.

Ein deutscher Leopard 2, damals noch im Training im Deutschland, heute wohl in der Ukraine im Einsatz.
Ein deutscher Leopard 2, damals noch im Training im Deutschland, heute wohl in der Ukraine im Einsatz.
APA/AFP/INA FASSBENDER

Selenskyj gab sich bisher bedeckt. In seiner abendlichen Ansprache sagte er am Mittwochabend nur, man habe an der Front "gute Resultate" erzielt. "Mehr Details später."

Verschanzte Russen

Die Zeit, in der die Ukraine ihre Waffen besorgte, erlaubte es aber freilich auch den Russen, sich besser denn je einzugraben und mit großflächigen Minenfeldern, Panzersperren und Verteidigungslinien zu schützen. Seit Beginn der Gegenoffensive vor einigen Wochen versuchte die Ukraine deshalb, entlang der Front immer wieder Nadelstiche zu setzen und sozusagen auszutesten, wo ein etwaiger Durchbruch gelingen könnte. Vielen Ukrainerinnen und Ukrainern, aber auch einigen westlichen Unterstützern gingen diese Fortschritte, bei denen unter hohem Blutzoll oft nur einige Dutzend Quadratkilometer zurückerobert wurden, zu langsam. Selenskyj aber forderte stets Geduld ein, im Wissen, dass der Großteil der Reserven erst zum Einsatz kommen würde.

Zuletzt sprach auch das russische Verteidigungsministerium wieder davon, dass es im Süden bei Orichiw und Robotyne Durchschlagsversuche dreier Bataillone der Ukraine gegeben habe. In der russischen Deutung der Geschichte seien diese aber freilich abgewehrt worden. Dass es heftige Kämpfe gab, belegen Augenzeugenberichte und Videos in sozialen Medien.

Eine gängige Version, der – offiziell freilich niemals kommunizierten – ukrainischen Strategie könnte es bekanntlich sein, von Orichiw via Robotyne und Tokmak bis Melitopol im Süden durchzustoßen und so die russische Front im Süden zu entzweien, gewissermaßen durch einen Keil die Versorgungswege der Russen zu durchschlagen. Gleichzeitig könnte versucht werden, die Krim-Brücke abermals zu sprengen und die Versorgungswege auf die Krim so am Landweg von den russischen Besatzern abzuschneiden.

Auch das US-Institut für Kriegsstudien (ISW) schrieb in einem Update von einer bedeutenden ukrainischen Gegenoffensive im Westen des Gebiets Saporischschja. Dabei seien anscheinend einige russische Verteidigungsstellungen südlich von Orichiw durchbrochen worden. Allerdings warnte das Institut am Mittwoch auch, dass westliche Offizielle Erwartungen hinsichtlich schneller ukrainischer Vorstöße weckten, die die ukrainischen Streitkräfte wahrscheinlich nicht erfüllen könnten. Das ISW gehe zwar weiter davon aus, dass die Ukraine bei ihren Gegenoffensiven erhebliche Fortschritte erzielen könne, aber eher über einen langen Zeitraum. (Fabian Sommavilla, 27.7.2023)