In seiner aktuellen Veröffentlichung setzt sich Philippe Sands, Anwalt für Völkerrecht und Autor der lesenswerten Recherchen Rückkehr nach Lemberg sowie Die Rattenlinie, mit Geschehnissen um die letzte britische Kolonie Chagos auseinander. Alle Einwohner des ursprünglich zu Mauritius gehörigen Archipels im Indischen Ozean, Nachkommen von Sklaven, wurden von 1969 bis 1973 aus militärstrategischen Gründen deportiert.

Die Abtrennung des Archipels von Mauritius war möglich geworden, weil Briten und Amerikaner der Insel im Gegenzug die Unabhängigkeit vom Empire versprochen hatten. Um die Zwangsumsiedlung zu legitimieren, behaupteten die Briten sogar, die Chagossianer wären bloß Vertragsarbeiter, keine Ansässigen. So wurde der Archipel geleert. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Auf der nahegelegenen Insel Diego Garcia wurde ein Stützpunkt der US-Armee eingerichtet, von wo aus später Bombenangriffe im Irak und in Afghanistan geflogen wurden.

2008: Eine Demonstrantin fordet die Rückkehr in ihre Heimat Chagos vor dem britischen Parlament in London.
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Diese Vorgänge bilden die Grundlage von Sands’ Studie zur Dekolonisierung, in der er weltpolitisches Geschehen mit dem Einzelschicksal von Madame Elysé verbindet, einer von ihrem Geburtsort vertriebene Chagossianerin. Sie musste sich mit ihrer Familie aus dem Nichts ein neues Leben aufbauen. Später kam es zwar zu britischen Wiedergutmachungszahlungen, die für die Eingliederung der Exilierten aufgewendet werden sollten. Diese weigerten sich trotzdem aufzugeben und begannen für eine Rückkehr nach Chagos zu kämpfen. Um ihren dringlichen Wünschen zumindest zeitweise zu entsprechen, wurden ihnen vierzig Jahre nach der Vertreibung Kurzreisen auf die Insel genehmigt. Sie fanden dort überwucherte Gebäude, die halb zerfallene Kirche und einen zerstörten Friedhof.

In der Folge bat der Premierminister von Mauritius den Autor Philippe Sands, die Interessen der Zwangsumgesiedelten als Anwalt für Völkerrecht am Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu vertreten, was schließlich gelang. Es kam zur Anhörung. Eine Mehrheit vertrat danach die Meinung, dass die Dekolonisierung von Mauritius unvollständig gewesen sei und dieser Status beendet werden müsse. Sands führt die Argumentationen der Rechtsvertreter verschiedener Länder an. Besonders afrikanische Nationen zogen Parallelen zur Verschleppung von Sklaven. Die Briten aber weigerten sich, dieses Urteil anzuerkennen und den Chagossianern eine Rückkehr zu erlauben.

Menschliche Schicksale

Sands erklärt die vielen nötigen Verhandlungsschritte, schildert die Versuche, überhaupt Institutionen zu finden, die sich mit der komplizierten Rechtslage befassen wollten. Er bemüht sich, die trockene Materie durch Details wie Gespräche in Hotellobbys oder auf Servietten festgehaltene Stichpunkte aufzulockern, fügt Anekdoten, zum Beispiel über die Sprunghaftigkeit und Unverschämtheit des früheren Außenministers Boris Johnson, ein. "Wie immer schlecht vorbereitet, hielt der britische Außenminister sich an keine Absprache." Basierend auf Vorlesungen, die Sands in Den Haag gehalten hatte, dominiert in dieser Erzählung über das Unrecht, das der Bevölkerung der winzigen Insel Chagos geschehen war, dennoch das Lehrhafte.

Auch um die nötige Aufmerksamkeit der Delegierten in Den Haag zu erlangen, sollte der Fall mit einem menschlichen Schicksal verbunden werden. Deshalb wurde die Analphabetin Madame Elysé 2019 als Zeugin hinzugezogen. In einem zuvor aufgenommenen Video wurden nicht nur die Vorgänge der Vertreibung, sondern auch das damit verbundene Leid und die Wut der Bevölkerung deutlich: "Zwanzig Jahre auf Peros Banhos, vier Tage Zwangsumsiedlung, 45 Jahre Flüchtling im eigenen Land, reduziert auf eine Erklärung von drei Minuten und 47 Sekunden."

Dekolonisierung

Über die Sands’ Bericht beigefügten Zeichnungen des britischen Cartoonisten Martin Rowson kann man zwar streiten, sie illustrieren aber den nahezu aussichtslosen Kampf einer Personengruppe, die Verstrickung von politischen Interessen und Institutionen, die Entwicklung des Prozesses bis hin zum Happy End, das erst nach der Veröffentlichung der Originalfassung des Buches 2022 möglich wurde.

Krimihafte Elemente sowie interessante Begegnungen, welche Die Rattenlinie so lebendig gemacht hatten, finden sich in diesem Buch nur spärlich. Außerdem geht das Thema der Dekolonisierung deutschsprachigen Rezipientinnen wohl nicht so nahe wie die Geschehnisse in Lemberg und im Nachkriegsösterreich, den Schauplätzen von Sands’ letzten Büchern. Um die menschliche Komponente der Vertreibung besser nachvollziehen zu können, wäre es daher empfehlenswert, zusätzlich einen Roman zu lesen, der das Schicksal der Inselbevölkerung veranschaulicht. Die mauritische Autorin Shenaz Patel nimmt sich mit Die Stille von Chagos ihrer Geschichte an, das wäre ein Tipp. (Sabine Scholl, 30.7.2023)

Philippe Sands, "Die letzte Kolonie. Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean". € 26,50 / 320 Seiten. S.-Fischer-Verlag, 2023
Die letzte Kolonie: S.Fischer Verlag