Eine Mutter kann vieles falsch machen. Das Schlimmste ist, wenn sie sich vom Kind abwendet und ihm die Mutterliebe versagt. Der Entzug schafft lebenslange Verwundungen und vergiftet das Leben des Kindes wie auch oft das anderer.

Der Dichter Alphonse Daudet muss sehr empört gewesen sein, als er vor 150 Jahren von einem solchen Fall von Kindesvernachlässigung erfuhr. Was immer ihm an Wissen darüber zugetragen wurde, Daudet, der Künstler, entschloss sich, in seinem weit ausgreifenden Roman Jack eine ganz eigene, weitgehend imaginierte Geschichte zu dem Thema zu erzählen.

Die Hauptfigur darin trägt den Namen Jack: englisch mit ck, wohl weil der uneheliche Sohn als Spross eines britischen Hochadligen gelten sollte. Denn die leichtlebige Mutter verdingte sich als Provinzkokotte und schwadroniert über angeblich edelblütige Liebhaber. Seit der Bub größer ist, nennt sie sich Gräfin Ida de Barancy und lebt als Mätresse eines gutmütigen älteren "Bon Ami" in einem noblen Pariser Palais.

Verführung durch schlechte Literatur

Ihren halbwüchsigen Sohn möchte sie in einem vornehmen Internat erziehen lassen. Als ihr dies wegen ihres zweifelhaften Rufs verwehrt wird, bringt sie den bedauernswerten Knaben in einem heruntergewirtschafteten Institut für abgeschobene Kinder aus den Kolonien unter. Dort unterrichten lauter verkrachte Genies und gescheiterte Existenzen. Als Poesielehrer wirft sich der verarmte Vicomte Amaury d’Argenton in Pose, dessen pathetischem Vortrag eigener Reimversuche Jacks Mutter bei einer literarischen Soiree unrettbar verfällt.

Ida wird die Geliebte des unsäglichen Lyrikers. Eine Verführung durch schlechte Literatur – diese Pointe konnte sich der Dichter Daudet nicht versagen. Für den Schüler Jack geht sie denkbar schlecht aus: Hemmungslos reagiert der ressentimentgeladene Pädagoge seine Launen an dem Knaben ab, wütend auf die Gesellschaft, die seine Talente beharrlich verschmäht. Die Mutter springt ihrem Sohn höchst selten bei. Statt Liebe schickt sie ihm einen Schal, damit er sich nicht verkühle.

Jack fühlt sich in dem Institut ausgesetzt wie im Exil. Sein einziger Freund, ein kleiner Schwarzer namens Madou, geht bald an den Zurichtungen der missratenen Erziehung zugrunde. Von seiner Mutter im Stich gelassen, fällt Jack zusehends in Einsamkeit und Verzagtheit.

Sitten der Zeit

Der hartherzige Stiefvater lässt den unglücklichen Zögling aus der Schule nehmen und in einer Gießerei unterbringen. Etappe für Etappe müht sich der Lehrling ab, den ihn überfordernden Beruf des Schmieds zu beherrschen. "Er ist vom Schraubstock bis zur Verarbeitung des Eisens fortgeschritten. Seine Hände haben Schwielen bekommen, sein Verstand ebenfalls."

Nach und nach schwindet in Jack der Widerstandswille gegen das Abgleiten in Armut, Schmutz und Haltlosigkeit. Er findet sich unter den Ausgestoßenen wieder, den Landstreichern, Hausierern und trunksüchtigen Clochards. Der Erzähler steigt mit ausgreifendem Realismus hinab in die Tiefen der sozialen Deklassierung. Ungescheut werden die Wunden der Demütigungen und seelischen Verletzungen des verstoßenen Heranwachsenden benannt.

Bei Dante findet der lesende Lehrling Jack Verständnis: "Kein Schmerz ist größer, als sich im Unglück der glücklichen Zeiten zu erinnern."

Mittlerweile war die flatterhafte Mutter dem tyrannischen Salonliteraten d’Argenton vollends verfallen. Eine Anweisung hatte sie voll Selbstbezogenheit dem 14-Jährigen auf den verfrühten Alleingang mitgegeben: "Verdiene deinen Lebensunterhalt … Deine Mutter wird dich brauchen."

Die Schilderung, wie dieser sensible Junge unter dem Druck der Verhältnisse allmählich zerbricht, ist so einfühlsam wie bewegend. Daudet erzählt Jacks Geschichte mit viel Zuwendung, aber auch mit satirischem Grimm und sozialer Demaskierung. Sitten der Zeit heißt sein Roman im Untertitel, und bei der figurenreichen Schilderung der verkommenen gesellschaftlichen Zustände des "Second Empire" unter Napoleon III. läuft der Autor zu großartiger Form auf.

Drama eines begabten Kindes

In Frankreich ist Alphonse Daudet, der Verfasser des köstlichen Schelmenromans Tartarin von Tarascon und der naturverbundenen Erzählungen aus seiner provenzalischen Heimat (Briefe aus meiner Mühle), eine Größe von klassischer Meisterschaft. Hierzulande muss er dringend entdeckt werden. Jack, sein unverstellt realistischer Entwicklungsroman in der Nachfolge von Charles Dickens, ist 1876 erschienen. In der stilsicher eleganten Übersetzung von Caroline Vollmann wird er nun erstmals auf Deutsch zugänglich. Er offenbart nicht nur das Drama eines begabten Kindes, sondern führt dem staunenden Leser in vielen bizarren und psychologisch aufschlussreichen Szenen ein großflächiges Erzählpanorama vor Augen. (Oliver vom Hove, 29.7.2023)

Alphonse Daudet, "Jack. Sitten der Zeit". € 46,50 / 696 Seiten. Die Andere Bibliothek, Berlin 2023
Jack. Sitten der Zeigt: Die Andere Bibliothek Verlag