Karoline Edtstadler bei einer Rede.
Karoline Edtstadler plädiert für das direkte Gespräch mit Israel.
IMAGO / Michael Indra

Die österreichische Verfassungsministerin Karoline Edtstadler sagte kürzlich, sie sei über die "Eskalation der Proteste" in Israel besorgt. Das wurde als Kritik an den zahlreichen Protestierenden interpretiert, die auch dieses Wochenende wieder in Israel gegen die umstrittene Justizreform demonstrierten. Im STANDARD-Interview will Edtstadler das richtigstellen.

STANDARD: Sie haben sich als Förderin des jüdischen Lebens in Österreich und Europa profiliert. Zuletzt bei der Erhöhung der Subventionen für jüdisches Leben in Österreich von vier auf sieben Millionen Euro. Und Sie wiederholen immer wieder die besondere Verantwortung Österreichs für Israel. Sie haben beides auch zu Ihrem persönlichen Anliegen gemacht. Kann man das so sagen?

Edtstadler: Ja, es ist wirklich eine persönliche Sache. Ich habe das erste Mal im Alter von 16 Jahren bei einer Exkursion zur Synagoge in Salzburg direkten Kontakt mit dem Zeitzeugen Marko Feingold gehabt und in diesem jungen Alter besonderes Interesse für das Thema entwickelt. Seit ich politisch tätig bin, habe ich gemerkt: Da kann ich viel mehr machen. Ich war als Staatssekretärin im Innenministerium zuständig für das Mauthausen Memorial und die Zeitzeugen – die leider immer weniger werden. Deshalb müssen wir nach Wegen suchen, das jungen Menschen zu vermitteln, und zeigen, dass jüdisches Leben in Österreich Teil unserer Kultur und Geschichte ist.

STANDARD: Haben Sie in der Schule in Salzburg ausreichend über den Holocaust und die Nazizeit gehört?

Edtstadler: Da muss ich sagen: leider nein. Wir haben vor dem Ersten Weltkrieg aufgehört.

STANDARD: Zuletzt sagten Sie bei einem Israelbesuch im Juni: "Die Beziehungen zwischen Israel und Österreich waren noch nie so stark wie heute. Österreichs Engagement für den jüdischen und demokratischen Staat Israel beruht auf unserer historischen Verantwortung." Mit Betonung auf auch "demokratischer Staat". Nun gibt es aber äußerst starke Tendenzen in der jetzigen rechtsnational-religiösen Regierung, die genau die demokratische Natur Israels infrage stellen. Der neue "Spiegel" hat "Stirbt Israels Demokratie?" auf dem Cover. Hunderttausende protestieren dagegen auf den Straßen. Sie selbst haben sich lediglich über die "besorgniserregende Eskalation" der Proteste geäußert. Ist das genug? Sind die Proteste besorgniserregend, oder ist es das Vorgehen der rechtsreligiösen Regierung?

Edtstadler: Das war eine Verkürzung meiner Antwort auf eine Frage bei der Präsentation der Förderung für jüdisches Leben. Was ich als Erstes sagen möchte – ja, Israel ist ein demokratischer Staat, einer der wenigen im Nahen Osten. Aber Demokratie muss man jeden Tag pflegen. Selbstverständlich muss man genau hinsehen, wenn es bei sehr sensiblen Reformen im Bereich der Justiz hier so breite Proteste gibt. Ich habe zu keiner Zeit nur die Proteste besorgniserregend gefunden, denn Demokratie lebt von Meinungsfreiheit.

STANDARD: So wurde es aber verstanden.

Edtstadler: Ich beobachte seit Monaten, dass es hier eskalierende Gewalt bei den Protesten gibt, von einer sehr breiten Mitte der Gesellschaft. Das sind nicht die Ränder, sondern die Mitte, auch die Eliten. Man hat die Reformen dann kurz ausgesetzt und schnell wieder aufgegriffen. Bei so sensiblen Reformen ist es für eine Regierung notwendig, Rücksicht zu nehmen und eine Breite zu erreichen. Das ist offensichtlich hier nicht passiert. Ich bin aber die Letzte, die als österreichische Verfassungsministerin von außen einem anderen Staat ausrichtet, was zu tun ist. Wir müssen im Gespräch bleiben. Ich war erst im Juni in Israel und habe dort den Staatspräsidenten und den Außenminister getroffen. Und ich verwehre mich dagegen, dass ich nur die Proteste besorgniserregend fände.

STANDARD: Das heißt, Sie finden auch die Vorgehensweise der Regierung von Benjamin Netanjahu besorgniserregend?

Edtstadler: Die Vorgehensweise zeigt ganz einfach, dass die Breite der Gesellschaft nicht einverstanden ist, und darauf sollte reagiert werden.

Demo gegen die Justizreform in Tel Aviv am 29. Juli 2023.
Benjamin Netanjahu ein "Crime Minister" statt ein "Prime Minister"? Demo gegen die Justizreform in Tel Aviv am 29. Juli 2023.
REUTERS/STRINGER/Yair Palti

STANDARD: Dazu ist erklärend zu sagen, dass Israel keine geschriebene Verfassung hat und das Oberste Gericht sozusagen fast die einzige Kontrollinstitution gegenüber der Regierung ist. Dennoch gibt es Kritiker wie den bekannten Historiker Tom Segev, der sagt, die Regierung mache hier einen Putsch von oben, die Demokratie sei noch nie so gefährdet gewesen in Israel, und es sei Teil eines Plans der rechtsextrem-religiösen Parteien in der Regierung, Israel in eine Theokratie zu verwandeln.

Edtstadler: Diese Sorgen sind ernst zu nehmen, das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen. Aber jeder Staat hat unterschiedliche Ausprägungen, und da muss man von außen vorsichtig sein. Aber das, was jetzt in Israel passiert, besorgt mich so sehr, weil die breite Mitte auf die Straße geht, und das sollten wir im Auge behalten. Ich bin die Letzte, die sagt, das ist alles in Ordnung, ich bin nur vorsichtig mit Kritik. Ich halte die Unabhängigkeit der Richterschaft und die Gewaltenteilung für Riesenerrungenschaften. Man muss sich das erklären lassen, aber jedenfalls genau hinschauen.

STANDARD: Die jetzige Regierungskoalition hat eine minimale Mehrheit …

Edtstadler: … nach x Wahlen …

STANDARD: … und existiert nur, weil zwei äußerst rechtsreligiöse Parteien dabei sind. Daran knüpft sich die Befürchtung, dass das mehr werden soll. Kenner der Situation, wie Thomas Friedman von der "New York Times", schreiben, dass die rechtsreligiösen Parteien den Obersten Gerichtshof nur deshalb weghaben wollen, damit er dem massiven Ausbau der Siedlungen und letztlich der Annexion des Westjordanlandes nicht mehr im Weg steht. Was sagen Sie dazu?

Edtstadler: Ich kenne nicht alle Details der Justizreform in Israel. Ich schaue mir die Dinge immer genau an, bevor ich mir eine Meinung bilde. Zum Beispiel beim Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn oder beim Vertragsverletzungsverfahren betreffend LGBTIQ, welches wir letztlich unterstützt haben. Insofern, ja: Diese Besorgnis ist da, was dieses Gesetz betrifft, aber schauen wir im Detail hin. Und erwarten Sie von mir nicht, dass ich einem Staat eine direkte Kritik ausrichte, ohne alle Details zu kennen. Die Besorgnis muss aber ernst genommen werden, wir müssen da genau hinschauen.

STANDARD: Viele sagen, Israel steuere auf eine Autokratie zu. Ist da etwas dran?

Edtstadler: Der Staatspräsident hat ja auch seiner Sorge Ausdruck verliehen, was diese Reform betrifft. Ich glaube, es muss die internationale Staatengemeinschaft alles tun, dass diese Tendenzen, die von manchen gesehen werden, tatsächlich nicht eintreffen. Wir brauchen einen demokratischen Staat Israel, der verankert ist mit allen westlichen Werten. Das ist die Aufgabe der Staatengemeinschaft, entsprechende Gespräche zu führen, darauf hinzuwirken. Israel ist so wichtig für uns als strategischer Partner, etwa auch bei der Diversifizierung von Energiequellen. Es ist in unserem ureigensten Interesse, dass die Demokratie dort stark ist.

STANDARD: Was tun, wenn Netanjahu sogar den US-Präsidenten Joe Biden abbürstet, auflaufen lässt?

Edtstadler: Das ist genau das Thema, da gibt es immer Abwehrreaktionen, wenn man von außen angegriffen wird. Deshalb ist es so wichtig, ins direkte Gespräch zu kommen. Auch aus historischer Verantwortung muss man für Israel alles tun, um das anzugehen, was als Sorge im Raum steht.

Benjamin Netanjahu
Benjamin Netanjahu steht im Zentrum der Kritik bei den seit Monaten andauernden Protesten gegen den Umbau der Justiz.
AP / Abir Sultan

STANDARD: Wenn also die EU eine kritische Erklärung zu Israel herausgibt, soll Österreich da mitstimmen? Ich frage das, weil Österreich und Ungarn 2020 eine kritische Erklärung zu einer möglichen Annexion des Westjordanlandes verhindert haben.

Edtstadler: Kommt drauf an, was drinsteht. Ich halte nichts davon, jemanden ins Eck zu stellen, statt ihn auf den richtigen Weg zurückzuführen.

STANDARD: Unter Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wurde das Verhältnis zu Israel, aber vor allem zu Netanjahu, viel enger. Aus Sympathie zu einem eher rechten Politiker wie Netanjahu?

Edtstadler: Nein, darum geht es nicht. Es geht darum, wo man strategische Partnerschaften sieht. Wir leben seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine in einer total anderen Zeit. Und ja, es gibt eine historische Verantwortung. Deswegen ist es wichtig, auch menschlich gute Beziehungen zu Politikern zu haben.

STANDARD: Ich glaube, dass Netanjahu einfach nicht nachgeben kann. Was ist dann?

Edtstadler: Diese Fragen des "Was wäre, wenn" sind einfach nicht beantwortbar. In der jetzigen Situation ist das besorgniserregend, dass so viele Menschen gegen eine Reform auf die Straße gehen. Und auch die Regierung in Israel täte gut daran, sich zu besinnen. Deshalb glaube ich, dass man im Verbund mit dem Dialog etwas bewirken kann.

STANDARD: Glauben Sie, dass es eines Tages notwendig sein wird, dass die EU auftritt und sagt: "So geht das nicht weiter?".

Edtstadler: Politik ist keine Glaubensfrage. Aber wenn es notwendig ist und wenn sich die Dinge weiter zuspitzen, wenn der Weg, den manche befürchten, sich fortsetzt, dann wird man sich sehr wohl etwas überlegen müssen. (Hans Rauscher, 30.7.2023)