Paläoanthropologe Lee Berger in der Rising-Star-Höhle in Südafrika, seine Stirnlampe leuchtet in die Kamera.
Paläoanthropologe Lee Berger erkundete erstmals selbst die Tiefen des Rising-Star-Höhlensystems.
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Es scheint, als würde Archäologie auf Netflix für besonders großen Trubel sorgen. Im Dezember erschien die pseudowissenschaftliche Dokuserie "Ancient Apocalypse" (auf Deutsch "Untergegangenen Zivilisationen auf der Spur"), in der Bestsellerautor Graham Hancock bemerkenswerte Fundstätten aufsucht und die "Mainstreamwissenschaft" kritisiert, die die von ihm propagierten Verschwörungsmythen nicht ernst nehme. Nun hat es "Cave of Bones" ("Die Knochenhöhle"), Teil der Dokufilmserie "Unknown" oder "Unbekannt", in der Erscheinungswoche weltweit auf Platz 2 des Streamingdiensts geschafft, in Österreich immerhin auf Platz 5.

UNKNOWN: Cave of Bones | Official Trailer | Netflix
Netflix

Der Film sorgt in der Fachwelt für gemischte Gefühle. Gezeigt werden nie dagewesene Einblicke in die Rising-Star-Höhle unweit der südafrikanischen Stadt Johannesburg. Im schwer zugänglichen Höhlensystem stieß man vor zehn Jahren auf Knochen einer ausgestorbenen menschlichen Spezies von geringer Körpergröße: Homo naledi vereint ursprüngliche und moderne Merkmale in sich, ein kleines Gehirn und grazile Hände und Füße. "Es war großartig, das Innere der Höhle zu sehen, die wirklich atemberaubend ist", schreibt der Archäologe Tom Higham von der Universität Wien auf Twitter, nachdem er den Film gesehen hat. Dass es sich um außergewöhnliche Funde handelt, steht außer Frage. Doch die Schlüsse, die das Forschungsteam um den bekannten Paläoanthropologen Lee Berger im Film zieht, sind voreilig. Das betonen Higham und zahlreiche weitere Fachleute.

So clever wie Homo sapiens?

Schon Ende 2022 verkündete Berger, der an der Universität Witwatersrand in Johannesburg und als National-Geographic-Entdecker forscht und sich gern medienwirksam inszeniert, dass sein Team Hinweise auf Feuer in der Höhle aufgespürt hatte. Auch Höhlenkunst wurde entdeckt sowie Funde, bei denen es sich womöglich um einen Werkzeugstein und eine Bestattungsgrube handelt. Spuren einer fortschrittlichen Population also. Homo naledi dürfte vor mindestens 240.000 Jahren gelebt haben, ob sich die Spezies im Austausch mit dem gleichzeitig lebenden Homo sapiens befand, ist bisher unklar.

Schädelknochen Homo naledi
Homo naledi, der vor rund 200.000 bis 300.000 Jahren in Südafrika lebte, hält noch viele Rätsel bereit.
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Das Problem an den Funden: Es lässt sich nicht sagen, ob sie tatsächlich auf Homo naledi zurückzuführen sind, wie Berger behauptet. Für ihn schreiben die Artefakte die Menschheitsgeschichte neu und belegen eine Kultur, die der des modernen Menschen vielleicht sogar voraus war – trotz seines vergleichsweise winzigen Gehirns. Wenn es sich tatsächlich um eine Art Friedhof in den fernen Winkeln der Höhle handelt, würde dies die bisher älteste eindeutige menschliche Bestattung um mehr als 100.000 Jahre übertrumpfen.

Seine Thesen trägt Berger im Film mit großer Überzeugung vor, gemeinsam mit anderen Fachleuten wie seiner Uni-Kollegin Keneiloe Molopyane und Agustín Fuentes von der Universität Princeton. Vor einem Jahr konnte er erstmals selbst gewisse schwierig erreichbare Kammern der Höhle besichtigen, das Netflix-Kamerateam begleitete ihn dabei. Er wurde zu einem "Untergrund-Astronauten", wie die Beteiligten der durchaus gefährlichen Expedition genannt werden. Unterlegt mit dramatischer Musik, werden archäologische Lara-Croft- und Indiana-Jones-Fantasien wahr.

How These Female Cavers Recovered New Human Ancestor Fossils (Exclusive Video) | National Geographic
Vor zehn Jahren hatte Lee Berger zierliche Archäologinnen in die Rising-Star-Höhle geholt, um die schmalen Passagen erforschen zu lassen. Klaustrophobisch durfte keine sein.
National Geographic

Fernsehen versus Fachmagazin

"So ist das nun mal im Fernsehen", schreibt Higham über die vorschnellen Vermutungen über Homo naledi im Film, die beinahe wie Gewissheiten kommuniziert werden. Dass Berger mit seinem Auftreten auch Laienpublikum für sein Fachgebiet begeistern kann, ist vielen Kolleginnen und Kollegen bewusst, wenngleich sie keine Fans seiner Methode sind. "Es ist wichtig, diese Sendung mit Vorsicht zu genießen, da Behauptungen aufgestellt werden, die von anderen Archäologinnen und Archäologen in keiner Weise bestätigt werden."

Doch die eigentliche Diskussion dreht sich weniger um die Doku. Vor wenigen Wochen wurde Kritik an den vorab von Berger und Co veröffentlichten neuen Studien zu Homo naledis möglichen Werkzeug-, Kunst- und Bestattungspraktiken laut. Publiziert wurden die Preprints im Fachjournal "eLife", das damit ein neues Veröffentlichungsmodell testet.

Unzureichende Studien

Die ohne Lesebeschränkung (also Open Access) verfügbaren Forschungsarbeiten gehen auf der Seite des Magazins online, ohne offiziell akzeptiert zu werden. Die Fachbegutachtung durch anonyme Kolleginnen und Kollegen, die zu jedem offiziellen wissenschaftlichen Paper gehört, verliert an Gewicht. Diese sogenannte Peer Review wird lediglich neben dem Paper veröffentlicht.

Knochen des Homo naledi von oben
Die Anatomie der ausgestorbenen Spezies ist überraschend: Sie lebte zeitgleich mit Homo sapiens, hatte aber einen wesentlich kleineren Kopf, dafür ähnlich filigrane und wahrscheinlich geschickte Hände und Füße.
AP/Robert Clark/National Geographic

Im Fall der neuen Homo-naledi-Studien fiel die Kritik der begutachtenden Fachleute streng aus. Sie machten größtenteils deutlich, dass die Qualität der Arbeit, von der Berger überzeugt ist, nicht den Ansprüchen des Fachs genüge. "Leider wird das Manuskript in seinem derzeitigen Zustand als unvollständig und unzureichend angesehen und sollte nicht als abgeschlossene Forschungsarbeit betrachtet werden", heißt es in einer Rückmeldung.

Es gebe nicht genügend Hinweise, um die Behauptung zu stützen, dass Homo naledi seine Toten absichtlich in der Rising-Star-Höhle begrub. So wurden etwa wenige Knochen in der natürlichen Gelenkslage mit anderen Knochen aufgefunden. Denkbar ist etwa, dass es zu Unfällen in der Höhle kam, Körper beziehungsweise Knochen könnten in die Höhle gespült oder getragen worden sein. Solchen Alternativen räumen die Studienteams kaum Platz ein.

Frustrierende Kritik

Zuvor hatte das Forschungsteam die Ergebnisse übrigens bei einem anderen Fachjournal eingereicht, wie Berger mitteilte. Die Begutachtung dauerte etwa sechs Monate, dann wurde die Studie abgelehnt, was für das Team "ein bisschen frustrierend" gewesen sei.

Paläoanthropologe Lee Berger in der Höhle
Die Kritik an seinen Studien hält Berger mitunter für nicht gerechtfertigt.
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Auf sich sitzen lassen will Berger die Kritik nicht. Es handle sich um das Werk von Dutzenden Forscherinnen und Forschern: "Ihre wissenschaftlichen Meinungen sollten nicht von zwei oder drei oder vier Gutachtern überstimmt werden. So funktioniert das nicht", sagte Berger gegenüber dem "Observer". Und: "Den Kritikern, die mehr Beweise fordern, möchte ich sagen: Wir werden diese Beweise liefern, also seid vorsichtig, was ihr euch wünscht."

Zudem betont der Anthropologe immer wieder, dass die möglichst hürdenlose Veröffentlichung der Ergebnisse die nötige wissenschaftliche Diskussion der Funde anrege. Sein Team wolle jedenfalls einige Vorschläge der Peer Review berücksichtigen und einarbeiten.

"Unverschämtes" Vorgehen

Solche Aussagen stellen wiederum Bergers Offenheit gegenüber Kritik infrage – und seine Vorstellung von Forschungsarbeit. "Sie interessieren sich einfach nicht für unsere wissenschaftlichen Fragen zu ihrer Arbeit", sagt die Paläoarchäologin Jamie Hodgkins von der Universität Colorado in Denver, die sich gegenüber "Nature" als eine der Fachbegutachterinnen zu erkennen gab. Ein solches Vorgehen genügt auch für viele andere Kolleginnen und Kollegen nicht den Anforderungen evidenzbasierter Forschung. Auf die Fundstätte könne sich dies negativ auswirken, befürchtet Chris Stringer vom Naturhistorischen Museum London.

Ein zweiter Reviewer, Sven Ouzman von der University of Western Australia in Perth, kritisiert auch das Publikationsmodell des Fachjournals "eLife". Es biete quasi der unsauberen Forschungsarbeit ein Schlupfloch, immerhin sei die Studie "im Grunde genommen schon veröffentlicht". Die Autorinnen und Autoren "können sagen: 'Wir haben die Kommentare der Gutachter geprüft und danken ihnen dafür. Aber wir bleiben bei unseren Argumenten.' Das ist irgendwie unverschämt", sagt der Archäologe. Und für seinen Kollegen Maxime Aubert von der australischen Griffith University scheint es so, als ob "die Erzählung wichtiger ist als die Fakten". (Julia Sica, 30.7.2023)